Der stille Schrei
Jossgrund. Eine Straße nach ihm benannt, der neue Kindergarten.
„80 Prozent“.
Das Knurren eines gefährlichen Bären. Die 115 Kilo seines Körpers bebten.
„75 Prozent, mein letztes Wort.“
Langsam nickte ich. So wurde also verhandelt. Wie beim Autokauf. Balkan. Ich sollte ihm zur Belohnung die Balkanplatte aus den Jossastuben für heute Abend bestellen.
Er rief Dr. Nolte an. Der Notar kam pünktlich um 11 Uhr und setzte alles so auf, wie besprochen. Karl musste das Testament handschriftlich in seiner Gegenwart schreiben. Da wir im Haus ein komplett eingerichtetes Büro hatten, wurde alles kopiert und mit dem Siegel des Notars bestätigt. Dr. Nolte war ein äußerst einsilbiger Mensch. Er stellte nur die notwendigsten zweckdienlichen Fragen. Auch hatte er gelernt, dass man Karl nicht zu viel fragen durfte. Zum Schluss, kurz bevor er sich verabschiedete, aber doch noch eine persönliche Frage.
„Karl, wir kennen uns seit Schulzeiten. Hat es etwas mit deiner Gesundheit zu tun?“
Jetzt bekam Dr. Nolte seine bösen Augen zu spüren.
„Ich bin kerngesund.“
„Karl, sieh es mir nach. Ich möchte dich noch lange als mein Kunde betreuen. Auch wenn ich kein Arzt bin: Du hast nicht nur Übergewicht, sondern trägst 35 Kilo zu viel mit dir herum. Von vielen gemeinsamen Ausflügen weiß ich, welche Unmengen du isst und dass du zudem die falschen Sachen trinkst. Bier, Wein, Schnäpse obendrauf.“
Karl war ganz ruhig, als er antwortete. „Das ist mein Leben.“
PRÄLUDIUM
Dienstag war Lagebesprechung mit Tim. Allen Ernährungsplänen zum Trotz fuhr ich morgens zum Bäcker Trüb und kaufte einige leckere Schokocroissants ein. Tim konnte sie sowieso vertragen, und ich hatte sie mir verdient. Ich sah dann in der Auslage noch die besonderen Apfelweintrüffel. Sie mussten es auch noch sein. Wie immer wurde ich freundlich verabschiedet und stieg direkt vor der Tür in meinen Roadster.
Auf der Fahrt nach Bad Orb dufteten mich die Croissants die ganze Zeit an. Aber ich blieb standhaft. Direkt vor seiner Praxis waren alle Parkplätze belegt. Ungewöhnlich.
Ich klingelte, und der Summer ließ mich sofort ein. Als ob Tim auf mich gewartet hätte. Die Begrüßung im Oval Office fiel etwas steif aus. Nach dem Orientierungslauf zum Schwarzen Berg waren wir beide etwas befangen. Da stand etwas zwischen uns, und doch zerrte es auch an uns. Bipolare Spannungen.
Wegen meinen gebrochenen Rippen näherte ich mich ihm noch vorsichtiger als sonst. Er schien es anders zu interpretieren, weil er angespannt wirkte und noch behutsamer war, als ich ihn kannte.
Von dem Vorfall mit Karl wollte ich ihm nichts erzählen. Es ging ihn nichts an. Zum Glück war meinem Gesicht nichts passiert, so dass man nichts sehen konnte.
Ich packte die Croissants aus und fragte nach einem Milchkaffee. Seine sonst so locker-flockige Art schien verflogen.
„Seit wann isst du kurz vor deinem ultimativen Rennen Croissants?“ Ein leichter Vorwurf lag in seiner Stimme.
„Tim. Bitte. Meine Fettwerte sind ideal. Ich könnte auch einen Triathlon absolvieren. Du hast doch selbst gesagt, dass es letztlich eine mentale Frage ist.“ Nach einer Pause. „Ich brauche diese kleine Aufmunterung.“ In Gedanken fügte ich hinzu: Ich feiere meinen Triumph über Karl.
Schweigend ging er in die Küche und hantierte an seiner DeLonghi-Maschine. Wenig später kam er mit zwei großen weißen Tassen mit aufgeschäumter Milch und leckerem Kaffeearoma zurück ins Office. Während wir den Kaffee und die Croissants genossen, erläuterte er mir noch einmal genau meine Laufstrategie. Wir hatten den Plan der Rennstrecke vor uns liegen und gingen Kilometer für Kilometer durch. Strategie, Taktik, Trinkverhalten, Bananen essen, bei den schwierigen Passagen mentale Stärke bewahren, sich von den vermutlich 50.000 Zuschauern ziehen lassen usw.
Während unserer Trainingseinheiten hatten wir komplizierte Messungen und Versuche unternommen, um die im „Book on Running“ von Jeff Galloway beschriebene Strategie für eine Spitzenzeit zu evaluieren. Laut Tim hatte ich das Potenzial, unter 3 Stunden 30 Minuten zu laufen. Für viele Hobbyläufer eine magische Grenze. Er meinte, ich solle mich nur auf das Durchhalten und Ankommen konzentrieren, es sei schließlich mein erster Marathon. Mein Ehrgeiz überzeugte ihn aber schließlich, dass ich auch auf Zeit laufen wollte. Also gab es einen Plan A und einen Plan B.
Da wir alles zum x-ten Mal durchgingen, wurde es schnell
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