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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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Muscheln, einen rostigen Kronkorken, einen Badeschuh und einen Kamm vorzuweisen.
    Luigi kam mit einem ziemlich großen toten Fisch zurück, der nach Angaben meines Lehrmeisters ungefähr fünfzehn Euro wert war, eine Seebrasse, die er sich nachher dünsten würde. »Sie riecht noch gut«, sagte er und hielt mir den Fisch unter die Nase, wobei mich die starren Augen des toten Tieres voller Verachtung anblickten.
    Er hieb mir auf die Schulter. »Nur nicht aufgeben, mein Junge«, sagte er. »Es heißt, wer sucht, der findet. Selten so einen idiotischen Satz gehört. Es muss heißen, wer findet, der lernt suchen.«
 

 

Kapitel 9
    I ch bin wieder am Strand gewesen. Für die Jahreszeit war es ungewöhnlich heiß. Ich hatte mich hingelegt und mit Sonnencreme eingerieben. Mir war vorher die Flasche mit der Creme umgefallen, und feiner Sand war eingedrungen. Beim Einreiben der Substanz hatte es unangenehm gekratzt. Dann war ich eingeschlafen.
    Als ich vom harten Licht der Sonne erwachte und nach dem Sunblocker griff, hatte ich ein ekelerregendes Gefühl, einen pelzigen Geschmack auf der Zunge. Ich spürte die Nähe eines bodenlosen Abgrundes. Da begriff ich: Ich hatte, bewirkt durch den Sand in der sahnigen Flüssigkeit, jenen entsetzlichen Albtraum gehabt, der mich zwischen meinem dreizehnten und neunzehnten Lebensjahr immer wieder heimgesucht hatte. Ich konnte ihn damals sogar am Tage auslösen, wenn ich etwas Weiches und zugleich Spitzes berührte. Im Traum schrie ich panisch immer höhere Zahlen. Es war die pure Todesangst. Dabei war der Traum vollkommen bilderlos. Alles war tiefschwarz. Dennoch gab es Strukturen, aber sie waren nicht optisch, sie hatten allein etwas mit dem Tastsinn zu tun. Grax, flüsterte ich, ein Ausdruck, der dem Geträumten nahe kam.
    Am Abend bekam ich hohes Fieber. Maria kümmerte sich um mich. Sie machte Wadenwickel und einen Kräutertee aus Salbeiblättern. Am nächsten Tag ging es mir etwas besser. Ich saß am Fenster. Carla war zurück. Sie stand auf der Terrasse an der Staffelei und malte Ugos Garten. Mit meinem Fernglas verfolgte ich die Entstehung des Bildes. Carla zeichnete mit Kohle vor. Die Bewegungen ihrer Hand waren schnell und sicher. Dann öffnete sie eine Reihe von Tuben und drückte die Farben auf die Palette. Sie hielt sie wie einen Spiegel vor sich und blickte hinein. Sah sie das Bild bereits, ehe es fertig war? Sie begann zu malen. Ich bemerkte, wie Ugos Zitronenbäume wuchsen und gelbe Früchte bekamen, wie die Spaliere von Tomatensträuchern, die ausladenden Zucchinipflanzen zu blühen begannen und sich die Kronen der knorrigen, alten Olivenbäume silbergrün belaubten. Als der Garten so gut wie fertig und bestellt war, fügte sie am linken Rand eine Figur ein. Sie trug kurze Hosen, ein grünes Hemd und schwarze Stiefel. Es war Ugo. Er blickte leicht vorgebeugt in seinen Garten, als sei er ein wenig verwundert über dessen opulente Verfassung in dieser Jahreszeit.
    Ich bat Maria, Carla zu schicken. Carla kam und brachte mir etwas zu trinken. Sie hatte Eiswürfel und ein Handtuch dabei. Wieder spürte ich die elektrische Kraft, die sie ausströmte, wenn sie sich über mich beugte. Ich starrte auf ihre Brüste, ihre so harmonisch gerundeten Oberarme, registrierte erschrocken, welche uralte, fast prähistorische Mütterlichkeit von ihr ausging. Ich bat sie, mir den kalten Umschlag auf die Stirn zu legen. Sie folgte meinen Anweisungen schweigend. Dann wurde es schwarz um mich, und Kälte drang in mein Hirn. Sie hatte, absichtlich oder unabsichtlich, das Tuch über meine Augen gebreitet. Einen Moment glaubte ich das Gewicht ihres Körpers auf mir zu spüren, schwer und leicht zugleich. Ein kaltes Feuer loderte auf meiner Haut. Als ich das Tuch entfernte, war sie verschwunden. Aber ich spürte ihren Körper immer noch. Carla, flüsterte ich. Die Sache wird gefährlich. Jedenfalls für mich.
 
    Ganz allmählich ging es mir besser. Ich liebe die Phase der Rekonvaleszenz. Am liebsten würde ich mein ganzes Leben als ein von allen möglichen Krankheiten Genesender verbringen. Man ist in einem solchen Zustand empfindlicher für die Nebengeräusche, Nebenfarben und Nebengerüche des Daseins. Ein dünnwandiges Glas klingt eben besser als ein dickwandiges, obwohl oder gerade weil es weniger stabil ist.
    Es regnete viel in diesem Winter. Das Flussrauschen war allgegenwärtig. Ich bildete mir ein, eine Vielzahl von Stimmen in seinem Rauschen zu hören, flüsternd, durcheinander redend.

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