Der Strandlaeufer
Materialien anzugreifen verstehen. Es hat in seiner Werkstatt alle möglichen Ambosse, Hämmer, Sägen, Bohrer und Feilen. Welle auf Welle schleift es selbst die härtesten Steine glatt oder bohrt Löcher in sie hinein. Ihm stehen dabei alle möglichen Gehilfen zur Seite wie Würmer, Schnecken und Muscheln. Es knetet und walkt wie ein Töpfer, es verfügt über Strudel als Töpferscheiben. All das mögen auch menschliche Kunsthandwerker besitzen. Was das Meer aber über sie erhebt, was es zum echten Künstler macht, ist, dass es in seinem Vorgehen unendliche Geduld mit vollkommener Planlosigkeit verbindet. Weißt du, was du da gerade in der Hand hältst? Du kannst es nicht erraten, weil du mit dem Stil des Künstlers nicht vertraut bist.«
»Und? Was ist es? Eine Schöpfkelle?«
»Nicht schlecht geraten. Es ist ein alter Telefonhörer.«
»Und das da?« Ich hielt Luigi einen rostroten, schweren Klumpen hin, der an eine archaische Götterfigur erinnerte.
»Das war einmal ein Schlüssel. Du würdest heute keine Tür mehr mit ihm aufbekommen.«
»Ich denke, ein Künstler muss einen Plan haben, muss wissen, was er anstrebt. Er tastet sich vor, vom Entwurf zum fertigen Werk, wobei er irgendein Idealbild im Kopf hat, das er zu erreichen versucht.«
»Unsinn. Was du sagst, gilt nur für akademische Kunst, die ohne Leben ist. Ich sage dir, wenn du Schriftsteller bist, wie du behauptest, dann verschwende bloß keinen Gedanken an irgendeine Geschichte, eine Handlung, eine reale Person. Sei lieber so etwas wie ein Strandläufer der Literatur. Entdecke das Meer in dir und sammle auf, was es aus der Tiefe deines Daseins anspült. Schreib einfach drauflos, lausche dabei dem Klang deiner Sprache und betrachte die Bilder, die sie erzeugt. Andernfalls schminkst du mit deinen Worten nur eine Leiche.«
Luigi schenkte nach. Wir tranken den bittersalzigen Meerwein.
»Das Meer hat keine Absichten, es will nichts verkaufen. Es ist nicht eitel, obwohl es allen Grund dazu hätte. Es nimmt den Gegenständen, die es mit der ewigen Peristaltik seines Magens und seinen Säften bearbeitet, die durch einen bestimmten Gebrauchszweck bedingten Formen wie zum Beispiel Henkel oder Griffe. Das Gebrauchskleid wird ausgezogen, so dass der Körper nackt ist und sein wahres Wesen zu erkennen gibt. Das Meer ist ein großer Entkleidungskünstler. Ein Pornograph, der die Verklemmtheiten des Zweckvollen verachtet.«
Ich errötete bei Luigis Worten, denn ich sah Carla vor mir, wie sie am Fenster stand. »Sag mal, Luigi, diese Kleine, die Enkelin von Ugo, weißt du etwas von ihr?«
Der Strandläufer grinste. »Klein ist sie nicht gerade, würde ich sagen. Du bist wohl scharf auf sie. Da bist du nicht der Einzige hier. Ich sage dir, sie ist ein Luder. Dass sie ihre Bilder auf dem Markt verkauft, ist unanständig. Genauso gut könnte sie sich selbst verkaufen. Lass lieber die Finger von ihr. Das Schicksal hat sie in Ugos Familie gespült. Sieh sie dir doch an, unmöglich, dass sie aus dem gleichen Stall ist. Sie ist eine Art Flaschenpost aus dem Jenseits. Vielleicht ist sie auch eine Meerjungfrau, wobei das mit der Jungfrau natürlich ein Witz ist.«
Ich starrte Luigi fragend an.
»Die Alte, die bei der Beerdigung neben ihr in der Kirche saß, ist ihre Großmutter. Wir nennen sie ›die Stumme‹, denn sie sagt nie etwas, aber sie ist nicht wirklich stumm. Ich habe sie sogar einmal singen gehört, als sie unten an den Felsen Wäsche gewaschen hat und sich unbeobachtet fühlte. Ich vermute, sie hat einfach keine Lust zu reden.«
»Und wer ist der Großvater?«
»Es gibt Gerüchte. Irgendein Fremder. Carlas Großmutter hat das Kind draußen im Turm bekommen. Vielleicht, weil sie es dort auch empfangen hat. Eines Tages kam sie mit einem Baby an. Einem Mädchen. Man hat es ihr weggenommen. «
»Aus welchem Grund?«
»Man hielt sie für schwachsinnig, für nicht ganz richtig im Kopf, verstehst du. Ich glaube aber, dass das gar nicht stimmt. Sie ist verdammt schlau, sag ich dir. Aber da sie keinen Vater für das Kind präsentieren konnte, weil sie stumm war oder nichts sagen wollte, schritten die Behörden ein.«
»Wie ging es weiter?«
»Tragisch. Es hieß, das Kind sei ebenfalls nicht ganz richtig im Kopf. Diesmal stimmte das sogar. Es wuchs in einem Heim auf. Später wurde es eine Wäscherin. Sie hat wie ihre Mutter hier auf den Klippen jahrelang für ein paar Lire die Kleidung der Fischer gewaschen und getrocknet. Mit fünfzig bekam sie ein
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