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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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dir beweisen? Nimm deine Krücken und komm mit mir!«
    Ich folgte ihm über verschiedene Treppen und durch enge Bogengänge, bis wir in einen Bereich des Ortes gelangten, den ich noch nicht kannte. Die Stadt wirkte hier noch unwirklicher als sonst, das Labyrinth noch komplizierter. Offenbar wohnten hier nur Einheimische. Ich bemerkte alte Frauen in den Fenstern neben Katzen, die in majestätischer Haltung auf den Simsen saßen. Aus einer offenen Tür drang laute arabische Musik.
    Die Gasse erweiterte sich zu einem kleinen Platz mit einer Bar. Ein Anker mit einem abgerissenen Tampen war über der Eingangstür befestigt. Hier drängten sich die Einwohner auf Klappstühlen, spielten Karten, redeten, tranken, während die Hunde unter den Tischen schliefen und Seevögel über den schmalen Himmelsausschnitt zogen. Der Strandläufer wurde mit einem lautem »Ciao Luigi« begrüßt, ein Stuhl für ihn frei gemacht und ebenso für mich.
    »Na, was hast du diesmal für Wunder in deinen Tüten! Ich könnte ein Kondom gebrauchen, Luigi, aber bitte unbenutzt«, schrie jemand. Alle lachten. Der Strandläufer saß eine Weile schweigend auf seinem Stuhl. Dann sagte er: »Ihr seid Banausen. Welcher von euch hier oben war jemals am Strand! Ihr kennt das Meer nur aus der Vogelperspektive. Deshalb haltet ihr es für eine Art Gemälde. Es ist aber in Wirklichkeit der Maler.«
    Er erhob sich, ließ das Getränk stehen, das ihm soeben gebracht worden war, und bedeutete mir, ihm weiter zu folgen. Wir stiegen ein paar Treppen hinunter und liefen durch lange Arkaden, deren Fenster zum Meer hinausgingen. Luigi blieb stehen und sah hinaus. Das Meer schimmerte perlmuttfarben. Die Wellen glichen von hier oben den Streifen eines Flickenteppichs.
    Vor einem schmalen, alten Haus mit rissigen Wänden und einer geborstenen Regenrinne machten wir Halt. Luigi holte einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür, die schief in ihren Angeln hing. Drinnen gab es eine Stiege. Sie war steil wie eine Hühnerleiter und mündete in ein armseliges Zimmer. Ein Klo hinter einem Vorhang, ein Eimer Wasser, ein schmales Bett aus roh zusammengenagelten Brettern, zwei wacklige Stühle, ein großer Tisch, mehrere Regale voller Flaschen, Kästchen und Töpfen. ܜber dem Bett ein Kruzifix. Der Erlöser mit abgeschlagenem Kopf. Ein einziges kleines Fenster nach Westen. Es glich, wenn man auf einem Stuhl saß, einem Gefäß, das bis zum Rand mit der blauen Farbe des Himmels gefüllt war.
    »Ich bleibe dabei«, griff Luigi unser Gespräch wieder auf, »dass die Natur ein größerer Künstler ist als der Mensch. Das Meer malt sich selbst.«
    »Ich kenne jemand, der versucht, das Meer zu malen.«
    »Ich weiß, wen du meinst. Carla ist eine Ausnahme. Sie versteht etwas vom Meer. Aber sie ist eine schlechte Malerin. «
    Der Strandläufer ging zu einem der Regale und holte eine Flasche. Sie war über und über mit Seepocken bedeckt. Er öffnete sie und goss zwei Gläser voll, deren Rand beschädigt war. »Alles in diesem Raum habe ich gefunden. Bett, Tisch und Stühle sind aus Treibholz. Auch die Kloschüssel ist angetrieben. Ebenso der kopflose Heiland. Er gefällt mir. Er sieht so freundlicher aus als gewöhnlich. Dies hier ist Wein. Ich hoffe, er ist noch trinkbar.«
    Wir stießen mit den Gläsern an und tranken. Der Wein schmeckte bitter und salzig. »Alter Brunello«, sagte Luigi. »Er hat ein bisschen gelitten im Wasser. Die Flasche muss bei einem Sturm über Bord gegangen sein. Das Beste aber ist da hinten drin.« Er deutete auf eine schmale Kiste von der Form und Größe eines Sarges. »Meine Schatzkiste. Ich werde dir jetzt beweisen, dass das Meer wirklich ein großer Künstler ist.«
    Er erhob sich, klappte den Kistendeckel hoch und holte in Lumpen verpackte Gegenstände hervor, die er auswickelte und auf dem Tisch drapierte wie Reliquien auf einem Altar. Sie waren offenbar aus den unterschiedlichsten Materialien, aus Glas, Porzellan, Holz, Eisen oder Kunststoff, alles Dinge, deren ursprüngliche, ehemals einer Funktion unterworfene Gestalt kaum mehr zu erkennen war. Sie wirkten bizarr, verwandelt, deformiert, zersetzt und transformiert.
    Ich nahm einen dieser Fetische in die Hand, hielt ihn ins Licht und versuchte, seinen ursprünglichen Zweck zu erkennen. Luigi sah mir dabei zu und rieb sich vergnügt die Hände. »Siehst du, das Meer ist wirklich äußerst geschickt und kreativ. Es verfügt über Säuren und Salze, die die Oberfläche von fast allen

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