Der Strandlaeufer
Gespräche der Toten an den Ufern des Styx.
Ich erhielt zwei Briefe aus der Heimat. Der eine war von meinem Vater, der andere von meinem Verleger. Er teilte mir lakonisch mit, dass mein letztes Buch leider kein Erfolg gewesen sei. Er wolle betonen, dass dies sicher nicht an mangelnder Qualität läge, sondern offensichtlich am Zeitgeist. Ich schriebe einfach zu kompliziert. Vor zehn oder zwanzig Jahren wäre mein Buch bestimmt ein Bestseller geworden. All seine Hoffnung ruhe nun auf unserem neuen Projekt. Dem Piratenroman. Die Erwartungen seien groß, die Resonanz jetzt schon erstaunlich. Ein Werk voller wilder Poesie werde erwartet, phantastische Abenteuer, zwischenmenschliche Leidenschaft, eingebettet in eine gut recherchierte Geschichte. Phantasie und Wirklichkeit eng ineinander verwoben, eine Form des Erzählens, die, wie er wisse, meine Stärke sei. Er würde sich freuen, bald einen Teil des Manuskriptes lesen zu können.
Ich rief im Verlag an und ließ mich mit dem Büro meines Verlegers verbinden. »Er ist heute leider den ganzen Tag in einer Sitzung«, sagte sein Sekretär. Auf die Frage, wie es mir gehe, sagte ich, dass ich krank gewesen sei, aber dass es mir schon wieder viel besser gehe. Das Werk sei nicht in Gefahr, aber es sei noch zu früh, etwas Schriftliches aus der Hand zu geben.
Dann las ich den Brief meines Vaters. Er war viele Seiten lang. Wie immer auf seiner alten Erika mit den von Farbe und Fusseln verstopften Lettern geschrieben. Für einen Neunzigjährigen war der Stil beneidenswert flüssig. Eine Stelle gefiel mir besonders gut.
»Sehr deutlich habe ich vor Augen, dass ich einmal einen Jugendfreund im Inneren der Insel besucht habe und auch über Nacht dort geblieben bin. Am Rande der Marsch lag der Hof. Als wir in den Abendstunden zurückgingen, lag eine eigenartige Stimmung über dem Land. Kein Wind. Sommerliche Wärme. Leichte Nebelschwaden stiegen aus den feuchten Marschfennen. Es muss ein Herbsttag gewesen sein, denn die Kühe waren schon in ihren Boxen, und wir hörten deutlich ihr zufriedenes Muhen aus dem warmen Stall. Eigentlich bin ich kein besinnlicher Mensch, der auf besondere Stimmungen leicht anspricht, auch kein sentimentaler oder gar romantischer. Aber dieser Abend, der in leichten Nebelschwaden, völliger Windstille und lauwarmer Luft vollzogene Gang aus den Niederungen der Marsch an den Geestrand, ist in meinem Gedächtnis haften geblieben. Oft habe ich in späteren Jahren an ihn denken müssen.«
Ich schrieb diese Stelle ab, veränderte sie ein wenig und schickte sie an meinen Verleger mit der Erläuterung, dass dies der Anfang meines Romans sei. Mein Held, der Pirat, sei im 18. Jahrhundert auf einer Nordseeinsel aufgewachsen. Der Text werde in der Ich-Form geschrieben, eine Art Rückschau des alten Mannes auf sein bewegtes Leben. Ich käme gut voran.
In Wahrheit hatte ich noch keinen einzigen eigenen Satz verfasst.
Endlich konnte ich meine Exkursionen in die Altstadt wieder aufnehmen. Ich traf Franco Celli wieder. Er lud mich zu einem Drink in die Gorillabar ein, seine Stammkneipe, einem kleinen Gewölbekeller in der Altstadt voller maritimer Souvenirs. Blöcke, Steuerräder, ausgestopfte Fische an den Wänden und der Decke neben einem himmelblauen Ventilator. Es gab auch einige Objekte von Meereskunst zu sehen, die Luigi hier zum Verkauf ausstellte.
Celli war Volksschullehrer am Ort, Anfang sechzig. Und er hatte noch zwei weitere Berufe, Fischverkäufer und Fischer. Ein Beruf allein könne ihn nicht ernähren, sagte er, denn zu seiner Hauptnahrung gehöre ein verhältnismäßig teures Lebensmittel: Bücher, darunter viele seltene, alte Exemplare. Sie würden sich in seiner Wohnung an den unmöglichsten Stellen stapeln. Die Gelesenen ständen aufrecht, die Ungelesenen lägen in Türmen aufeinander.
Celli wäre leicht in der Lage gewesen, mehrere Lehrstühle an einer Universität auszufüllen. Ich hatte noch nie einen Menschen mit größerer Universalbildung erlebt. Ob Geschichte, Meteorologie, Astronomie, Biologie, Musikgeschichte, er verfügte in allen möglichen Wissensgebieten über fundierte Kenntnisse. Der Uomo universale der Renaissance war sein Vorbild, den Spezialisten verachtete er. Er verglich ihn mit einem Menschen, der durch ein stark vergrößerndes Fernglas blickt. Er sieht zwar mehr Details, aber das Zittern seiner Hand verwischt das Bild. Außerdem ist das Blickfeld sehr klein. Der Universalgebildete blickt hingegen mangels Spezialwissen
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