Der Strandlaeufer
seit Menschengedenken angestimmter Protest. Und zwar der gegen den Verfall, gegen die Zellteilung. Du gleichst Adam, der enttäuscht darüber ist, dass Gott ihm zum Abschied aus dem Paradies das Geschenk der Sterblichkeit gemacht hat.«
Luigi hob sein Hemd und wies auf seinen hervorquellenden Bauch. »Du kannst die Sache drehen und wenden, wie du willst. Das Fleisch ist nun einmal der Vorhang vor einem widerlichen Stück voller Fortpflanzung und Totschlag. Ich wiederhole: Nur zweimal will mir dieser faltenreiche Vorhang gefallen. Kurz nach der Geburt, bevor dieses obszöne Stück, Leben genannt, zur Aufführung kommt, und kurz bevor es aus ist. Wenn du Augen im Kopf hast, Celli, dann wird dir aufgefallen sein, dass jeder Säugling, der direkt nach der Geburt mit seinem runzligen Gesicht, seinen blöden Augen und seinem Kugelbauch an einen Greis erinnert, binnen weniger Wochen seinen Charme verliert. Er sieht erstaunlich schnell aus wie ein enttäuschter Börsenspekulant. Und erst im allerletzten Stadium seines Daseins, wenn die Verkalkung seines Hirns dazu führt, dass er seinen Namen vergisst und er völlig verblödet vor sich hinstarrt, kommt die Mimik des Anfangs zurück, die Hoffnung, die Träume von einem besseren Leben. Aber dann ist es auch schon aus und vorbei. «
Franco sah mich an. »Unser guter Luigi macht einen verbitterten Eindruck, findest du nicht? Vielleicht hat er heute zu wenig in der Tüte gehabt. Sag, du bist doch ein Schriftsteller, du machst doch viele Beobachtungen. Was hältst du von den Menschen?«
Ich hatte mit solch einer direkten Frage nicht gerechnet und war verwirrt. Da beider Augen erwartungsvoll auf mich gerichtet waren, rang ich mich zu folgender Erklärung durch: »Ich kann mit Begriffspaaren wie schön und hässlich, dumm und klug und anderen Dichotomien nicht umgehen. Sie kommen mir zu grob, zu simpel vor. Was mich interessiert, ist die Erinnerung. Mir gefallen Menschen umso besser, je deutlicher bei ihnen die Gabe der Erinnerung ausgeprägt ist. Ich möchte ihren Geist mit einer Bühne vergleichen und die Erinnerungen mit Schauspielern, die dort ihren Auftritt haben.«
»Kennst du einen solchen Menschen?«, fragte Franco Celli und legte seine Hand auf mein Knie.
»Wahrscheinlich glaubt der arme Kerl, seine kleine Carla erinnere sich an etwas anderes als an sich selbst«, warf Luigi ein.
»Ja. Ich kenne so jemanden«, sagte ich. »Mein Vater. Er war schon immer ein gutaussehender Mann. Jetzt, in seinem hohen Alter, ist er schön, weil er sich erinnert.«
»An seine Jugend?«
»An seine Vorfahren«, sagte ich knapp.
»Und, mein Guter«, sagte Luigi, »wie geht es dir mit dir selber? Gefällst du dir vielleicht, weil du dich an dich besonders gut erinnern kannst?«
»Nein«, sagte ich. »Ich gefalle mir ganz und gar nicht. Es fällt mir nämlich äußerst schwer, mich an mich zu erinnern. Vielleicht bewundere ich diese Fähigkeit daher bei anderen Menschen so sehr. Ich bekomme immer nur Bruchstücke, einzelne Bilder und Szenen zu fassen, die sich nicht zu einem Ganzen zusammenfügen wollen.«
»Du musst dir nur einen Ort suchen, wo du dich besser konzentrieren kannst, mein Freund«, sagte Celli. »Ich weiß zufällig einen für dich. Den alten Sarazenenturm da draußen. Er wurde 1538 von einem toledischen Baumeister für einen hiesigen Provinzfürst weithin sichtbar auf dem Capo di Vento errichtet, das wie eine Kralle aus Felsen ins Meer ragt. Er ist als Inspirationsquelle geradezu ideal für deinen Roman. Schließlich ist er einst zum Schutz gegen Piraten errichtet worden. Ich habe dort bis vor kurzem eine kleine Wetterstation betrieben. Jetzt fehlt mir leider die Zeit dazu. Und zuvor hat ihn, wie ich dir bereits erzählt habe, Marconi für seine Experimente benutzt. Das war gegen Ende der zwanziger Jahre, vielleicht auch noch einmal Anfang oder Mitte der dreißiger. Danach verschwand er spurlos aus dieser Gegend. Doch vielleicht auch nicht. In gewissem Sinne ist er noch gar nicht abgereist. Es gibt Personen hier, in denen er weiterexistiert. Genaueres weiß man nicht. Aber es gibt Gerüchte, die vielleicht ein Körnchen Wahrheit enthalten. Hier, Sarazeno, für dich.«
Er holte aus einer Plastiktüte ein Buch heraus und einen großen, rostigen Schlüssel.
»Lies erst das Buch. Es ist die derzeit beste Abhandlung über Sarazenentürme. Danach geh zum Turm. Der Weg dorthin ist mühsam und nicht ganz ungefährlich. Erst musst du über die stark befahrene Autostraße nach
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