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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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erzählt. Ich habe dir bestimmt schon erzählt, was wir mit dem Garten in diesem Herbst vorhaben. Weißt du überhaupt, wie ein Hibiskus aussieht? Er hat so einen dicken Stamm! Dort, hinter der Klematis, neben dem Wohnzimmerfenster, da ist der Hibiskus. Du kannst ihn dir später ansehen, damit du weißt, was ich meine, du weißt ja scheinbar nicht, wie ein Hibiskus aussieht! Gib es zu! Dieser dicke Stamm mit den rosa Blüten. Pink heißt die Farbe. Pink. Dort neben der Klematis, die keine Blüten hat. Aber sie hat Knospen, sie kommt wieder, sie war schon weg vom Fenster, weg vom Fenster, sage ich, aber wir haben ihr eine Chance gelassen, dein Vater und ich. Und jetzt hat sie Knospen! «
    Sie hebt die Tasse mit zitternden Händen zum Mund und schließt die Augen. Der Sohn steht auf und setzt sich sofort wieder, als die Mutter fertig getrunken hat.
    »Jaja, ich weiß, es fällt dir schwer, still zu sitzen. Du warst schon immer ein unruhiger Geist. Wir sind auf zwei verschiedenen Wellenlängen, mein Sohn. Das war schon immer so, aber du weißt, dass ich Recht habe, und darum musst du dir nachher unbedingt den Hibiskus ansehen. Wir wollen den Garten vereinfachen. Ich verrate dir damit gewiss kein Geheimnis, mein Sohn, du vergisst immer wieder, dass wir alte Leute sind, dein Vater und ich. Wir wollen den Garten vereinfachen, damit wir nicht mehr so viel Arbeit haben mit ihm. Da hinten auf dem Hügel, da haben wir Rhododendron angepflanzt. Nur Rhododendron. Und da rechts, am Ende, da haben wir etwas ausgesät, und das bringt überhaupt nichts, mein lieber Sohn. Aussäen bringt überhaupt nichts. Wir sind einfach zu alt dafür. Und dann dieses unbeständige Wetter! Manchmal wird etwas daraus, manchmal geht man leer aus. Zum Beispiel die Tomaten! Und überhaupt alles, was wir damals ausgesät haben, das bringt überhaupt nichts. Da ist zu viel Glück dabei. Glück, hörst du? Das bringt überhaupt nichts.«
    Die Mutter schlürft den Rest der Tasse aus. Dann steckt sie den Finger hinein und beginnt, den Zucker auszulecken. Der Sohn rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her. Die Wolken am Himmel türmen sich höher und höher. Man hört Donnergrollen in der Ferne.
    »Es sind die Flugzeuge, die diesen Lärm machen. Würdest du mir bitte noch etwas Tee nachschenken? Schmeckt dir der Kuchen nicht? Du solltest mehr essen, so dünn, wie du bist. Aber du musst schon selber wissen, was du tust. Immer mit dem Kopf durch die Wand, immer mit dem Kopf durch die Wand. Der Hügel dort hinten ist mit Rhododendron bepflanzt, nur mit Rhododendron. Er blüht so herrlich. Alles in einer Farbe. Du weißt, ich liebe die reinen Farben, diese klare Luft, dieses Blau! Es ist alles blauer Rhododendron, und dort rechts, an der Ecke, dort setzt dein Vater noch einen Busch blauen Rhododendron hin, er kostet viel Geld, fünfzig, hundert, na ja, unter dreißig Mark ist da nichts drin, obwohl wir den Gärtner gut kennen. Kennst du den Gärtner eigentlich? Er ist ein so schöner junger Mann, und er ist gar nicht dünn, er ist gut beieinander, mein lieber Sohn, gut beieinander. Wir fahren in die Gärtnerei, gleich wenn du weg bist, und suchen uns einen kräftigen Busch aus. Man kennt uns dort, wenn du weg bist, mein lieber Sohn, fahren dein Vater und ich in die Gärtnerei und holen uns einen kräftigen Busch blauen Rhododendron. Du kennst Rhododendron? Aber du weißt nicht, wie Hibiskus aussieht! Es ist ein Malvengewächs, eigentlich heißt es Eibisch, aber wir nennen es lieber mit dem richtigen Namen. Er hat einen kräftigen Stamm, und die Blüten sind fleischrot, fleischrot, und sie blühen nur einen Tag. Aber auf eine verwelkte Blüte können hundert neue, tausend neue, na, sagen wir, hundert neue kommen, alle fleischrosa, Pink, Pink heißt die Farbe.«
    Der Sohn ertappt sich dabei, dass er überlegt, wie er seine Mutter umbringen könnte. Wäre ich Raskolnikow, denkt er, wüsste ich Rat, aber ich bin nicht Raskolnikow. Das Wort Raskolnikow tröstet ihn plötzlich. Er spricht es sich innerlich immer wieder vor, wenn die Mutter Hibiskus sagt. Hibiskus - Raskolnikow.
    »Da, an der Wand«, fährt die Mutter fort. »Da ist der Hibiskus. Neben dem Fenster hinter der Klematis, die schon am Ende war, aber wir haben ihr noch eine Chance gegeben, und jetzt hat sie Knospen. Sie 
hat
 Knospen, siehst du deinen Vater? Er steht am Fenster, siehst du, dort, neben der Klematis. Ja, dein Vater ist alt geworden. Er hat einen ganz kleinen Körper bekommen, aber er ist

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