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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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seiner Familie. Er hört fast nichts mehr, aber wenn du da bist, wird er das niemals zugeben.«
    Inzwischen ist der Vater wieder zurückgekommen und hat sich in seinen Sessel geworfen. Seine Frau hat den Ton auf inständiges Bitten des Sohnes hin etwas leiser gemacht. »Jetzt ist es gut«, sagt ihr Mann. Da wird der Ton wieder lauter. Der Sohn ruft: »Mutter, bitte leiser!« Sie sagt: »Dein Vater hört schlecht.« Der Vater sagt: »Es ist zu laut.«
    Alle starren auf die Scheibe. Spätnachrichten mit neuem Mord und Totschlag. Der Nachrichtensprecher verspricht sich. Seine Lippen bewegen sich nicht synchron. Die Mutter sagt: »Irgendetwas ist am Gerät kaputt. Der Ton wird ständig von selber lauter.« Und wirklich hat die Lautstärke wieder zugenommen. Sie muss den Knopf heimlich gedrückt haben.
 
    Das Sonntagsfrühstück am nächsten Morgen ist wie immer der Gipfel der Verstörung. Auf der Tischplatte nehmen Teller, Tassen, Besteck, Eierbecher, Käseglocke, Salzstreuer, Teekanne Aufstellung zu einer Schlachtordnung, wie sie einem preußischen General im 18. Jahrhundert gefallen hätte. Die Mutter überwacht den Aufmarsch der Truppen und kontrolliert die Bewegungen der einzelnen Abteilungen. »Du isst viel zu schnell«, sagt sie immer wieder, an den Sohn gewandt. Der weiß nicht, wie er es schaffen soll, überhaupt zu essen. Es ist auch kein richtiges Essen möglich, nur eine Art Würgen nach innen.
    Seine Hände, sein Kopf, sein Magen sind betäubt. Nur der Rücken schmerzt. Die Mutter lobt €›ihren€‹ Käse und beklagt die hastige Art und Weise, wie ihre Männer ihm zusprechen. Der Sohn sieht das Ei vor sich, diese weißliche, spitze Haube. Er fingert es nervös aus dem Eierbecher und guillotiniert es. Er trifft es genau auf der Gürtellinie. Eigelb fließt ihm wie gelbes Blut die Finger herunter. Sein Vater gehört nicht zu den Henkern. Er klopft behutsam gegen die Schale, als sei darin ein wichtiger Gedanke verborgen. Dann pellt er die Bruchstücke vorsichtig einzeln ab.
    Nach dem Mahl verschwindet der Vater in der Küche. Die Mutter schaltet den Fernseher an. Aus den Augenwinkeln erfasst der Sohn unscharf ein schreckliches Bild. Sie dreht etwas Rötliches in der Hand. Es ist ein Gebiss mit Plastikgaumen. Es zittert wie ein gefangenes Tier in ihrer Hand. Sie leckt die künstlichen Zähne ab, weil noch Honig daran klebt.
    Doch gibt es zum Staunen des Sohnes Momente in diesem Irrenhaus, in denen sich alle seine Insassen merkwürdig wohl fühlen. Wie ein betäubender Nebel sinkt dieses Wohlgefühl von der Decke herab und verdichtet sich in der Nähe des Küchenbodens. Das Atmen fällt schwer, doch man fühlt sich angenehm berauscht. Sie sitzen beim Kirchgang. Da seine Mutter sehr stark zittert, schenkt ihr Mann ihr Glas nicht voll. Dafür ist es viel größer als die Gläser der Männer. Ein geschmackloses, mit einer grünen Oldtimerlimousine bedrucktes Limonadenglas auf dem grauweiß gepunkteten Resopaltisch, halb gefüllt mit einer bernsteingelben Flüssigkeit, in der eine Süßstofftablette langsam zerfällt.
    Die von Pigmentstörungen braunweiß gefleckten alten Hände der Frau nähern sich dem Glas von rechts und links wie die Zangen eines Krebses. Sie packen zu, heben das Glas ein wenig, senken es auf den Tisch zurück, halten es zitternd dort fest, wobei es vibriert und Geräusche macht. Ihr wackelnder Kopf beugt sich tief herab, die dünnen Lippen schieben sich vorgestülpt über den Rand. Dann schlürft sie wie ein Tier an der Tränke. Ihre Lippen kriechen dabei den Glasrand hinab und folgen der sinkenden Oberfläche der Flüssigkeit wie bräunliche Nacktschnecken. Der Vater hebt sein Grogglas, prostet und zwinkert dem Sohn zu. Der trinkt natürlich am schnellsten. Und ganz plötzlich wird ihm wohl inmitten all der ܜbelkeit, die in ihm lauert.
    Er findet es gemütlich. Draußen bewegt ein einsetzender Wind die Zweige der Bäume. Sie scheinen durchs Glas zu wachsen. Regentropfen perlen an den Scheiben herab, kleine Kugeltiere mit auf dem Kopf stehenden Landschaften in sich, die sie verschluckt haben und nun dem rauschenden Tod darbieten.
    Der edle Kopf seines Vaters hebt sich gegen den Vorhang ab wie eine alte Fotografie aus einem Bildband über die Zeit der Großsegler. Langsam beginnt er zu reden. Wie üblich geht es um sein Steckenpferd, die Ahnenforschung, und wie so oft empfindet der Sohn die Art, wie er das Thema behandelt, als seine besondere Form der Zukunftsforschung. Wenn dieser Mann

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