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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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die Tante. »Ich trinke allein ja nie, nur wenn Besuch da ist.«
    Nach dem vierten Teepunsch setzt sie sich ans Klavier, spielt und singt ein Liebeslied von Schubert. Sie ist jetzt 83, und ihre Stimme hüpft und flattert wie ein Kolibri über ihren alten Händen. Der Neffe wird wehmütig. Er hängt im Sessel, trinkt und sieht in den blauen, kleinen, viereckigen Himmel über dem Innenhof. Als er auf die Toilette muss, findet er den Lichtschalter nicht. Er zieht an einer Schnur, doch es bleibt dunkel.
    Er umarmt die Tante zum Abschied, wobei er sich bücken muss. Da springt die Tür auf. Draußen stehen ein aufgeregter Pfleger und eine Krankenschwester. »Ist Ihnen schlecht, Frau Westphal?«, fragt die Schwester. ܜber der Tür leuchtet eine rote Lampe, die der Neffe unwissentlich angeschaltet hat.
    »Kommen Sie doch herein. Möchten Sie etwas essen?«, sagt die Tante freundlich. »Es ist noch etwas übrig.«
 

 

Kapitel 24
    I ch mag deine Mutter«, sagte Carla einmal. »Sie ist wenigstens nicht feige wie du und dein Vater. Es tut mir Leid, dass sie keiner von euch verstanden hat. Ihr Fehler war es, eine ehrliche Meinung zu haben. Wenn sie schlecht über andere gedacht und geredet hat, dann nur, weil sie all das Unverständnis verletzt hat, das sie umgab. Die Durchschnittlichkeit, das Mittelmaß, das, was man Normalität nennt. Du musst weiterschreiben, vor allem über sie. Du musst dich noch mehr in sie hineinversetzen, so sehr, dass du sie selber bist. Das ist deine einzige Möglichkeit, hier etwas wieder gutzumachen. Im ܜbrigen nimmst du deine Eltern viel zu ernst. Was soll ich denn sagen, ich, die ich keine Eltern habe? Mein Vater ist Luft, ist nichts.« Sie stand nackt vor dem Spiegel und schlüpfte dann in ein unglaubliches Kleid, weiß und tief ausgeschnitten. »Hast du schon gehört? Es sind Filmleute in der Stadt. Sie suchen Statisten für den Film. Meinst du, ich könnte eine kleine Rolle bekommen? Eine Kellnerin zum Beispiel?«
    Sie verschwand. Ich stieg auf die Plattform und sah ihr nach, wie sie durch die Macchia verschwand, wobei sie sich große Mühe gab, ihr Kleid nicht zu beschädigen. Dann ging ich hinunter und machte mich an die Arbeit.
    Jahre sind vergangen. Sie kann mittlerweile das Bett nicht mehr verlassen. Tag für Tag und Nacht für Nacht liegt sie da. Nachts ist der Mann neben ihr. Sie lauscht seinem Schnarchen und schmunzelt.
    Auch am Tage lächelt sie häufig, als gehöre ihr ein Geheimnis, das sie mit niemandem teilen muss. Etwas blickt durch sie hindurch, starrt unverwandt zur Zimmerdecke. Deshalb kann sie auch den Kopf nicht bewegen und die Augäpfel nicht, weil etwas durch sie hindurchstarrt wie durch ein aufgerolltes Blatt Papier, das inwendig leer ist. Unverwandt starrt es auf diesen weißen Fleck, auf dem nichts zu sehen ist, nicht einmal ein Riss oder ein Spinnweb. Sie selbst würde diese Stelle keines Blickes würdigen, sie würde lieber hinaussehen zum Fenster, in den Garten, wo der Regen die Zweige biegt und schüttelt und ein feuchtes Grün aus den Blättern quillt. Sie würde auch lieber ihren Mann ansehen, wie er auf dem Stuhl in der Ecke sitzt, den schweren Kopf in die Handflächen gestützt, oder ihren Sohn, wie er im Gegenlicht neben dem Vorhang einen Schatten bildet. Aber sie kann den Kopf nicht heben, weil etwas in ihr ständig zur
    Decke sehen will, nicht sie selbst natürlich, denn es gibt auf der Welt nichts Belangloseres als diese weiße Stelle über ihr, die sie unverwandt ansehen muss, obwohl es dort nichts zu sehen gibt, absolut nichts. Es hat keinen Zweck, die Augen zu schließen. Sie hat es probiert, seit vielen Wochen. Jenes andere Wesen tief in ihr kann dann immer noch hinsehen, so dünn sind ihre Augendeckel, so fein sind sie gespannt, ein dünnes Häutchen auf heißer, abgekühlter Milch. Auch wenn sie die Augen schließt, starrt es durch sie hindurch zur Decke. Es muss etwas sein, das keinen Sinn hat für all die Schönheiten rings um sie, für die Rose zum Beispiel, an deren Duft sie bemerkt, wie schön sie verwelkt, oder den Regen, den sie so deutlich hört, als streiften die Tropfen ihr Ohr. €›Gloria Dei€‹ heißt sie, jetzt weiß sie es wieder. Sie hatten immer Rosen dieser Sorte im Garten damals, als sie die Villa bewohnten, die Mutter, ihr Stiefvater und ihre Halbschwester. Nach den Sommerschauern standen die Tropfen groß und kristallen in den Rosen und schmückten den Duft, der ihnen entströmte.
    Sie rümpft die Nase, sie muss niesen.

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