Der Strandlaeufer
schien sie zufrieden zu sein. »Ich habe ein paar der Filmleute kennen gelernt. Sie suchen tatsächlich Statisten. Hauptsächlich Fischer. Aber vielleicht bekomme ich auch eine kleine Rolle.«
Sie schlug vor, an den Strand zu fahren und zu schwimmen. Ich saß hinter ihr auf ihrer Vespa. Beide hatten wir Sonnenbrillen auf. Ihr blondes Haar mischte sich mit meinem und verknotete sich mit ihren während der Fahrt so, dass wir beim Absteigen Mühe hatten.
Wir hatten die Straße nach Süden genommen und kletterten jetzt über die Leitplanke und steile Felsen hinab in eine kleine Sandbucht. Wir hatten alles für ein Picknick dabei, Langusten, Brot und kühlen Wein. Carla zog sich aus und begann mit ihrem Ritual. Sie verneigte sich zum Meer hin, dann hob sie die Arme, winkelte die Hände ab, drehte die Handflächen in alle Himmelsrichtungen, bewegte sich ähnlich wie eine balinesische Tempeltänzerin. So einsam, wie ich es gehofft hatte, waren wir jedoch nicht. Ein Schlauchboot mit überdimensioniertem Außenborder raste auf die Bucht zu. In seinem Bug stand ein Mann mit einem Camcorder in der Hand. Er filmte Carla.
Das Boot wendete und verschwand, auf seiner breiten Heckwelle reitend. Ich stellte Carla zur Rede. Ob sie etwas mit diesem Voyeur zu tun habe. Sie sagte nur: »Mein Körper spricht mit dem Meer, und das Meer spricht mit ihm, und mein Kopf hört zu. Wenn andere das filmen, stört mich das nicht.«
Wir begannen zu streiten. Dann fuhren wir zurück. Carla setzte mich an der Straße ab. »Ich fahre nach Rom zu Probeaufnahmen. Ich habe die Nase voll von deiner Eifersucht.«
»Viel Vergnügen«, sagte ich. Dann ging ich den Ziegenpfad entlang. Ich sah, wie das Schlauchboot in den Hafen einlief. Als ich die dämmrige Kühle des Turmes betrat, fühlte ich, wie sehr er mir inzwischen Schutz bot.
Ein halbes Jahrhundert später: Der gleiche Mann, der den Juden damals nicht verraten hat, läuft durch die Wohnung und sucht. Er betritt jeden Raum, stöbert in jeder Ecke, sieht im Keller nach, in der Garage sogar, zieht Vorhänge beiseite, blickt in Schränke, sucht und sucht, und da er nichts findet, macht das Suchen sein Gesicht schrecklich. Es ist grau geworden und hart wie Stein. Er versteht die Welt nicht mehr, weil er sucht, ohne zu finden. Es ist, als ob die Welt sich dadurch in einen dichten Nebel verwandelt. Er quillt aus den Schränken, hinter den Übervorhängen hervor und füllt das ganze Haus. Der Mann sucht eine leere Bierflasche, die im Kasten voller leerer Bierflaschen fehlt. Dreiundzwanzig leere Bierflaschen, die alle der Sohn ausgetrunken hat, haben nur eine Funktion, diese eine furchtbare Stelle deutlich zu machen, an der die leere Bierflasche fehlt.
Er fragt den Sohn, wo die Flasche sei. Er fragt voller Misstrauen, fast verachtend, denn er weiß, dass er die Antwort nicht glauben wird.
»Ich weiß nicht, wo sie ist«, lügt der Sohn, der sehr wohl weiß, dass er sie im Eckschrank versteckt hat, weil er sie heimlich getrunken hat, auf seinem Zimmer in der Nacht, als es geregnet hat, ein schwacher Regen, der kaum zu hören war, nur dieses feine Knistern, das klang, als käme es aus einem schwarzen, porösen Nichts.
Der Vater weiß, während er fragt, dass nebenan seine Frau zu den lauten Klängen von Operettenmusik im Sterben liegt, seine Frau, die einst seine Geliebte war und die Mutter des anderen, der zu viel trinkt und der es versäumt, die Flaschen dorthin zurückzustellen, wo sie hingehören, wenn sie leer sind.
Nebenan ist sehr weit, wenn dort jemand im Sterben liegt. Der Sohn sieht es jedoch ganz nah vor sich, wie sie zur Decke starrt, während er nach der Bierflasche gefragt wird. Als ob er sich über sie beugt, während er Antwort gibt. Er schüttelt den Kopf und beteuert noch einmal, nicht zu wissen, wo die Flasche ist. Dann geht er hinüber ins Wohnzimmer und setzt sich mit Magenschmerzen vor den Fernseher. Er hat den Ton abgestellt, weil er den Schritten des immer noch suchenden Alten lauschen will, die überall im Haus sind, in jedem Winkel, unter dem Dach, im Flur, in der Toilette, im Badezimmer, nur im Schlafzimmer nicht. Draußen regnet es unaufhörlich. Nicht schwach wie in der Nacht, sondern heftig. Es ist, als habe die lange Trockenheit des Sommers einen Heulkrampf bekommen. Der Sohn würde selber gern weinen, aber er spürt nur so etwas wie eine schwache Übelkeit in der Kehle und eine eiserne Kralle im Magen.
»Vater«, sagt er plötzlich, »ich habe die Flasche auf den
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