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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boëtius
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vor den Augen, mit beiden Händen hält sie sich am Porzellanrand der Toilettenschüssel fest. Zwischendrin tastet sie nach dem Fischgriff und zieht. Das Erbrochene wird weggeschwemmt von der klaren Flut, aber die Gräte ist plötzlich wieder da und treibt im Knie der Toilettenschüssel.
    Als ihr Mann spät in der Nacht nach Hause kommt, sieht er zu seiner Bestürzung, dass seine geliebte Frau totenbleich im Sessel liegt. Ihre Augen stehen offen, und ihr Atem geht heftig und stoßweise. Sie reagiert nicht, als er ruft: »Mein Rehlein, mein Reh, was ist mit dir?« Er hebt sie auf und trägt sie zum Bett. Dabei sieht er, dass das Laken fehlt. Er legt seine Frau sanft und behutsam auf die Matratze. Dann setzt er sich an den Bettrand und beginnt, ihr behutsam über Magen und Brust zu streicheln. »Was ist mit dir, mein Rehlein, ist dir nicht gut?«
    Es dauert lange, bis sie fast unhörbar zu flüstern beginnt. Er muss sein Ohr an ihren Mund halten. »Ich habe heute Mittag ein wenig Fisch gegessen. Er muss wohl verdorben gewesen sein. Und da ist dann noch dieser Mann.«
    »Welcher Mann?«
    »Er wohnt im Kasten und beobachtet mich. Ich erklär es dir.«
 
    Nicht genug damit, dass die Wohnung im Souterrain liegt. Das Bad liegt noch tiefer. Licht erhält es nur durch zwei schmale Kellerfenster, vor denen Fliegendraht ist. Von Licht kann man eigentlich gar nicht sprechen. Es ist eine trübe, unanständige Dämmerung, die sich durch die runde Glaskugel an der Decke höchstens ein wenig gelb färben lässt, wenn man das Licht anknipst. Der Raum ist ihr vom ersten Augenblick an unheimlich gewesen. Wenn der Gasboiler angeht, schlägt jedes Mal eine bläuliche Flammenwoge aus dem Schlitz. Man wird sich noch in die Luft sprengen. Warum reden sie alle vom Krieg, wenn er hier unten schon stattfindet? Am schlimmsten aber ist der hölzerne Kasten, der eine ganze Ecke des großen Badezimmers ausfüllt. Er hat lauter kleine Fensterquadrate, hinter denen man die Stoffwellen eines zugezogenen Vorhanges sieht. Der Kasten hat eine Tür. Sie ist abgeschlossen, wie sie festgestellt hat, als sie zum erstenmal hier unten gewesen ist. Der Schlüssel steckt von innen. Jedes Mal, wenn sie sich bückt, um durchs Schlüsselloch zu sehen, steckt der Schlüssel von innen. Dann ist das Ungeheuerliche geschehen: Sie liegt in der Wanne, das Wasser bis zum Hals, ohne Schaumbad, so dass sie ihren Körper unter Wasser sehen kann. Die Brüste sehen flacher aus, als sie in Wirklichkeit sind. Sie hat schöne Brüste. Selbst unter Wasser wirken sie noch voll. Sie berührt sanft ihre Brustwarzen, bis sie sich aufstellen, kleine Seerosenleiber unter Wasser. Plötzlich bemerkt sie, wie sich der Vorhang hinter dem Glaskasten bewegt. Ein ganz klein wenig klafft er an einer Stelle auf. Sie hält den Atem an. Da hört sie einen anderen Atem. Kein Zweifel, da drinnen wird Luft aus- und eingesogen von einer menschlichen Brust. Da drinnen ist ein Mensch und beobachtet sie. Sie steigt aus der Wanne, wickelt sich das große Badetuch um den Leib und flieht nach oben in die Wohnung. Das ist gestern gewesen. Sie hat sich so geschämt, dass sie es verschwiegen hat. Jetzt erst erzählt sie es ihrem Mann. Sie bekommt dabei rote Flecken auf Hals und Wangen. Da sei ein Mann im Kasten versteckt. Er habe sie gesehen, nackt, wie Gott sie nur für ihn geschaffen habe. Er habe ihre Scham gesehen und ihre Brüste. »Mach etwas«, flüstert sie, »du darfst deine kleine Frau den Blicken dieses Wüstlings nicht aussetzen. Sie gehört nur dir, nur dir, ganz und gar mit allem an ihr nur dir.«
    Er geht zur Wirtin und stellt sie zur Rede. Die Frau weicht aus, will nichts sagen. Er tritt immer fester auf. Er hat Autorität. Es ist, als sei er an Bord seines Schiffes. Endlich rückt sie heraus mit der Wahrheit. Sie fleht ihn an, nichts zu verraten. Es gehe um Leben und Tod. Dort unten im Kasten halte sich ihr Mann versteckt.
    »Warum muss Ihr Mann sich verstecken?«, fragt er. Sie sieht ihn verwundert an. Wie kann man in diesen Zeiten nur so eine kindliche Frage stellen. »Er ist kein Arier«, flüstert sie. »Er ist Jude.« Das Wort Jude spricht sie so leise, dass es für den anderen nur noch aus einer Lippenbewegung besteht.
 

 

Kapitel 25
    D ieser Sommer war besonders heiß. Die Leute stöhnten, und in den Bars waren die Plätze unter den Deckenventilatoren besonders begehrt. Im Turm jedoch war es angenehm kühl und im Verlies meiner Erinnerung sogar eiskalt. Als Carla zurückkam,

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