Der Strandlaeufer
Frau Reimers nach meinem Rezept gemacht, deshalb schmeckt er so gut. Sie hat viel gelernt von mir. Sie benutzt keine Mayonnaise wie damals deine Frau. Deshalb schmeckt er so gut.«
Die Eltern begeben sich vor den Fernseher. Beide haben wieder ihre Sonnenbrillen auf. Der Film, der gezeigt wird, handelt von einer Schauspielerin, die Angst vor dem Älterwerden hat und deshalb ständig eine Sonnenbrille trägt. Der Vater steht hinter dem Sessel seiner Frau. Der Sohn denkt, aus dieser Position könnte er sie mühelos erwürgen. »Was ist mit dir, Edmund«, sagt seine Frau. »Warum setzt du dich nicht?«
»Ich möchte nichts weiter als stehen«, sagt der Mann. Der Sohn rafft all seinen Mut zusammen und sagt, er würde noch für eine halbe Stunde weggehen und ein Bier trinken. Er könne ja die Schüssel, in der der Kartoffelsalat war, zurückbringen. »Du musst wissen, was du tust!«, sagt die Mutter mit drohender Stimme.
Als der Sohn eine Stunde später zurückkommt, schließt er zuerst die äußere Kellertür ab, dann die innere Kellertür, dann die Tür am Ende der Kellertreppe. Er nähert sich der Schlafzimmertür, unter der Licht zu sehen ist, und sagt laut »Gute Nacht«. Da hört er die nuschelnde Stimme der Mutter: »Komm doch bitte mal herein.« Der Sohn gehorcht. Da sieht er sie liegen. Aufgebahrt auf ihrem Rücken, das gebisslose Kinn auf dem Nachthemd, der stiere Blick zur Decke gewandt. Der Vater neben ihr auf der Seite liegend, in sich verkrümmt. Der Sohn geht zu ihm und streicht ihm über die schütteren Haare. Dann geht er zur Mutter und gibt ihr die Andeutung eines Kusses auf die feuchte Stirn. Als er hinausgeht, ruft ihm der Vater nach: »Hast du das Licht im Keller ausgemacht?«
Ehe der Sohn am nächsten Morgen fährt, steht er eine Weile neben der Standuhr. Sie kommt ihm wie ein Mensch vor. Das Ticktock ihres Klangs ist ungleichmäßig. Als ob sie über eine linke und eine rechte Herzkammer verfügt. Immer wieder gibt es kleine Unregelmäßigkeiten, ein Schnarren, ein unrhythmisches Verändern des Schlags. Er weiß die Ursache. An einem Zahnrad fehlt ein Zacken.
Der Vater fährt ihn mit dem Auto zum Bahnhof. Der Vater ist schlecht gelaunt und schimpft auf die Politik.
»Es dürfte überhaupt keine Parteien geben, jedenfalls dürften sie nicht regieren«, sagt er wütend. »Was wir brauchen, sind Experten, die vernünftig regieren.«
Der Sohn schweigt. »Du machst zu viele Schulden«, sagt der Vater. »Das ist nicht wahr«, protestiert der Sohn. Der Vater wird aschgrau im Gesicht, gibt Gas und rast dem vor ihnen fahrenden Auto fast auf die hintere Stoßstange. Dann überholt er im Tunnel auf der rechten Spur. »Du wirst nie mehr ein Wort von mir darüber hören«, stößt der Vater hervor.
Als sie schließlich auf dem Bahnsteig stehen, ist ein furchtbares, eisiges Schweigen in ihrem Warten. Endlich kommt der Zug. Der Sohn steigt ein und öffnet das Abteilfenster. Der Vater steht draußen, die Kapitänsmütze auf dem Kopf. Er packt die Hand des Sohnes und schüttelt sie mit heftigem, schmerzendem Druck. Er lässt erst wieder los, als der Zug anfährt. Ein Stück läuft der Vater mit, dann sieht der winkende Sohn ihn davongleiten, sich umdrehen und im Treppenniedergang verschwinden, eine kleine windgebeugte Gestalt in einem blauen Dufflecoat.
Der Sohn sitzt im Abteil und starrt zum Fenster hinaus. Als der Zug über die Kanalbrücke fährt, ist die Gegend eine Spielzeugwelt tief unter ihm. Irgendwo am westlichen Horizont das Haus der Eltern, jetzt schon so weit entfernt, eine kleine, verkapselte Lebenslüge.
Der Sohn hat ein Paket dabei. Darin ist die Uhr, die der Vater repariert hat. Er soll sie seiner Tante in Hamburg bringen. Er fährt mit dem Taxi zum Altersheim. Die Greisin steht im Flur, in einem weißen Nachthemd, eine kleine, runzlige Eskimofrau, in einer Schneewehe versunken, so sieht sie aus.
Die Tante hat gekocht, Mehlauflauf mit Speck und Sirup, mit zerlassener Butter übergossen. Es schmeckt scheußlich, doch dem Neffen mundet es. Es gibt Bier und Wodka dazu. Dann packt der Neffe die Uhr aus und stellt sie auf die Kommode unter den schrägen Spiegel. Vergeblich versucht er, sie in Gang zu setzen. »Das macht nichts«, sagt die Tante. »Ich brauche keine Uhr. Ich habe Zeit genug.«
Anschließend trinken sie Teepunsch. Als der Neffe eine neue Flasche Kümmel sucht, entdeckt er in der Speisekammer Kartons mit mindestens fünfzig Flaschen Schnaps. »Das ist meine Geldanlage«, sagt
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