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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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und keinen Fahrdienstleiter, der auch nur einen Pfifferling wert wäre.“
    Sie schenkte ihm keine Beachtung, sondern wandte sich an den Lokführer. „Da Sie wissen, dass die Signalanlage defekt ist, was werden Sie unternehmen?“
    Ihr Befehlston missfiel ihm, und er fragte sich, was ihr einfiel, so mit ihm zu reden. Sie wirkte wie ein junges Mädchen. Nur ihr Mund und ihre Augen verrieten, dass sie etwa Mitte dreißig sein mochte. Ihre dunkelgrauen Augen wichen nicht aus und wirkten dadurch verstörend, als schnitten sie eine Schneise durch alles, was sich ihnen in den Weg stellte, indem sie das Nebensächliche wegstießen. Ihr Gesicht kam ihm vage bekannt vor, aber er konnte sich nicht erinnern, wo es ihm begegnet war.
    „Ich werde mich nicht aus dem Fenster lehnen, Lady“, sagte er.
    „Er will damit sagen, dass wir verpflichtet sind, auf Anweisungen zu warten“, sagte der Beimann.
    „Sie sind verpflichtet, diesen Zug zu fahren.“
    „Nicht wenn das Signal rot ist. Wenn das Signal uns zum Anhalten zwingt, halten wir an.“
    „Ein rotes Signallicht zu überfahren wäre gefährlich, Lady“, sagte der Fahrgast.
    „Wir gehen kein Risiko ein“, sagte der Lokführer. „Wer auch immer dafür verantwortlich ist, wird uns die Schuld in die Schuhe schieben, wenn wir weiterfahren. Deshalb bewegen wir uns erst von der Stelle, wenn wir eine entsprechende Anweisung bekommen.“
    „Und wenn Sie keine Anweisung bekommen?“
    „Früher oder später wird jemand hier aufkreuzen.“
    „Wie lange wollen Sie darauf warten?“
    Der Lokführer zuckte mit den Schultern. „Wer ist John Galt?“
    „Er meint, dass es unsinnig ist, Fragen zu stellen, auf die es keine Antwort gibt“, sagte der Beimann.
    Sie blickte auf das rote Signal und auf die Gleise, die in die Dunkelheit zielten und in der Ferne darin verschwanden.
    Sie sagte: „Fahren Sie vorsichtig bis zum nächsten Signal vor. Wenn es freigeschaltet ist, fahren Sie bis zum Hauptgleis weiter. Halten Sie dann am nächsten besetzten Wärterposten.“
    „Ach ja? Auf wessen Anweisung denn?“
    „Auf meine.“
    „Und wer sind Sie?“
    Ihre Verwunderung über die unerwartete Frage ließ sie kurz zögern, Zeit genug für den Lokführer, ihr Gesicht näher zu betrachten, und im selben Moment, in dem sie antwortete, stieß er hervor: „Gütiger Himmel!“
    Sie antwortete nicht unfreundlich, sondern lediglich wie jemand, der die Frage nicht oft hört: „Dagny Taggart.“
    „Ich werde …“, sagte der Beimann, und dann schwiegen alle.
    Sie fuhr fort, im selben Ton unaufgeregter Autorität. „Kehren Sie auf das Hauptgleis zurück, und halten Sie den Zug für mich am ersten besetzten Wärterposten.“
    „Jawohl, Miss Taggart.“
    „Sie müssen die Verspätung aufholen. Sie haben dafür bis morgen früh Zeit. Bringen Sie den Comet pünktlich ans Ziel.“
    „Jawohl, Miss Taggart.“
    Sie wandte sich eben zum Gehen, als der Lokführer sie fragte: „Falls es Ärger gibt, übernehmen Sie die Verantwortung, Miss Taggart?“
    „Ja.“
    Der Zugführer begleitete sie zurück zu ihrem Waggon. Entgeistert stammelte er: „Aber … ein einfacher Platz in einem Sitzwagen, Miss Taggart? Aber warum bloß? Aber weshalb haben Sie uns denn nicht informiert?“
    Sie lächelte entspannt. „Für Formalitäten hatte ich keine Zeit. Mein Privatwaggon war ab Chicago an Zug Nummer 22 angeschlossen, aber ich bin in Cleveland ausgestiegen – und da der Zug Verspätung hatte, ließ ich meinen Waggon nicht abkoppeln. Ich nahm die nächste Verbindung, und das war der Comet. Im Schlafwagen war kein Platz mehr frei.“
    Der Zugführer schüttelte den Kopf. „Ihr Bruder hätte nicht mit einem normalen Personenwagen vorliebgenommen.“
    Sie lachte auf. „Nein, wohl kaum.“
    Die Männer an der Lokomotive schauten ihr nach. Unter ihnen war auch der junge Bremser. Er zeigte auf sie und fragte: „Wer ist das?“
    „ Das ist die treibende Kraft der Taggart Transcontinental“, antwortete der Lokführer mit aufrichtiger Hochachtung. „Das ist die Betriebsleitende Vizepräsidentin.“
    Als der Zug mit einem Ruck anfuhr und das Pfeifen über den Feldern verebbte, saß sie am Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Es gerät alles aus den Fugen, dachte sie. Im ganzen Land muss mit Zwischenfällen wie diesem gerechnet werden, überall, jederzeit. Doch sie empfand weder Ärger noch Sorge, sie hatte keine Zeit für Gefühle.
    Es war lediglich ein weiteres der vielen Probleme, die es zu lösen galt.

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