Der Streik
ab.
„Es hörte sich tatsächlich an wie ein Thema von Halley“, sagte sie. „Aber ich kenne jede Note, die er je zu Papier gebracht hat, und dieses Thema habe ich noch nie gehört.“
In dem noch immer ausdruckslosen Gesicht des jungen Mannes lag lediglich ein Schimmer von Aufmerksamkeit, als er sich ihr wieder zuwandte und fragte: „Sie mögen Richard Halleys Musik?“
„Ja“, antwortete sie, „sehr sogar.“
Er betrachtete sie einen Augenblick lang, als zögerte er, dann wandte er sich ab. Sie beobachtete die fachmännische Fertigkeit seiner Bewegungen, als er wieder an seine Arbeit ging. Er arbeitete stumm weiter.
Sie hatte zwei Nächte lang nicht geschlafen, durfte sich aber jetzt nicht erlauben einzuschlafen. Es gab zu viele Probleme, für die es Lösungen zu finden galt, und nicht viel Zeit. Der Zug sollte am frühen Morgen in New York ankommen. Sie brauchte die Zeit, und doch wünschte sie, der Zug würde schneller fahren. Aber es war der Taggart Comet, der schnellste Zug im Land.
Sie versuchte nachzudenken, doch die Musik ging ihr im Kopf herum. Sie hörte immer noch die vollen Akkorde wie das unerbittliche Herannahen eines unabwendbaren Ereignisses. … Sie schüttelte verärgert den Kopf, nahm mit einem Ruck ihren Hut ab und zündete sich eine Zigarette an.
Sie nahm sich fest vor, wach zu bleiben. Bis morgen Abend würde sie ohne Schlaf auskommen. … Die Räder des Zugs ratterten in rhythmischem Takt. Das Geräusch war ihr so vertraut, dass sie es nur unbewusst wahrnahm und doch Ruhe daraus schöpfte. … Als sie ihre Zigarette ausdrückte, wusste sie, dass sie eine weitere brauchte, doch sie würde sie nicht sofort anzünden, sondern sich eine Minute gönnen, nur ein paar Minuten. …
Sie war eingeschlafen und schreckte mit dem Gefühl auf, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Dann erst merkte sie, dass die Räder stillstanden. Lautlos und schwach erleuchtet stand der Waggon im blauen Schein der Laternen. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr: Es gab keinen Grund zu halten. Sie blickte aus dem Fenster: Der Zug stand inmitten von ausgedehnten Feldern.
Sie hörte, wie sich jemand jenseits des Flurs im Sitz bewegte, und fragte: „Wie lange stehen wir hier schon?“
Eine Männerstimme antwortete gleichmütig: „Seit etwa einer Stunde.“
Mit schläfriger Verwunderung blickte der Mann ihr nach, als sie aufsprang und zur Tür eilte.
Draußen wehte ein kalter Wind. Es war ein öder Landstrich unter einem öden Himmel. In der Dunkelheit hörte sie das Rascheln von Gras. In einiger Entfernung sah sie mehrere männliche Gestalten, die sich um die Lokomotive geschart hatten, und über ihnen ein rotes Haltesignal, das in der Luft hing.
Sie ging rasch auf sie zu, vorbei an der langen Reihe ruhender Räder. Niemand achtete auf sie, als sie sich näherte. Die Zugbesatzung und einige Fahrgäste standen unter dem Haltesignal dicht beieinander. Niemand sagte etwas. Offenbar warteten sie einfach gleichgültig ab.
„Was ist hier los?“, fragte sie.
Der Lokführer drehte sich verblüfft um. Die Frage hatte nicht wie die eines neugierigen Fahrgastes geklungen, sondern wie ein Befehl. Mit den Händen in den Manteltaschen und hochgeschlagenem Kragen stand sie da, der Wind wehte ihr die Haare ins Gesicht.
„Rotes Signal, Lady“, sagte er und zeigte dabei mit seinem Daumen nach oben.
„Seit wann ist es rot?“
„Seit einer Stunde.“
„Wir sind auf einem Nebengleis, stimmt’s?“
„Stimmt.“
„Warum?“
„Ich weiß es nicht.“
Der Zugführer mischte sich ein: „Ich glaube nicht, dass wir absichtlich auf ein Nebengleis geführt wurden. Die Weiche hat nicht funktioniert, und das Ding dort oben funktioniert schon gar nicht.“ Dabei wies er mit dem Kopf auf das rote Signal. „Ich glaube nicht, dass es umschalten wird. Ich schätze, es ist kaputt.“
„Was wollen Sie also unternehmen?“
„Abwarten, bis es doch umschaltet.“
Bestürzt und verärgert schaute sie ihn an. Der Beimann lachte in sich hinein. „Vergangene Woche stand ein Sonderzug der Atlantic Southern zwei Stunden lang auf einem Nebengleis, nur weil irgendjemand einen Fehler gemacht hatte.“
„Das ist der Taggart Comet“, sagte sie. „Der Comet ist noch nie unpünktlich gewesen.“
„Als einziger im ganzen Land“, sagte der Lokführer.
„Es gibt immer ein erstes Mal“, sagte der Beimann.
„Sie haben ja keine Ahnung von der Eisenbahn, Lady“, sagte ein Fahrgast. „Im ganzen Land gibt es keine Signalanlage
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