Der Strom, der uns traegt
Blumentöpfe und die Schale mit Kugelschreibern, Klebeband und Schere. Was wir lasen, nahmen wir in unsere Gedanken auf und machten damit, was wir für richtig hielten. Und jedes Jahr kaufte Mutter ihm einen schönen neuen Kalender. Mein Vater war ein offenes Buch.
TAGE AUS SEINEM TAGEBUCH
1986
27.1.
Heute alles weiß gefroren. Spät aus dem Bett. Muss noch viel husten und bin schnell außer Atem. Es ist ganz schlimm, dass ein Mensch so verfällt. Es ist der Anfang vom Ende. Meine Arbeitslust nimmt auch ab.
31.1.
Wieder ein Monat vorbei. Es geht doch so schnell. Wenn man zurückschaut. Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, stehen mir Dinge von vor fünfzig, sechzig Jahren wieder ganz klar vor Augen. Mehr traurige als fröhliche. Dann bin ich froh, wenn der Morgen kommt.
24.2.
Es friert ganz schön. Heute Nachmittag Schilf geschnitten. Ich konnte über das Eis laufen. Das Schilf war nicht sehr gut. Es war krumm und nicht schön. Ich merke, dass ich auch keine Lust habe. Das lag wohl auch am schlechten Schilf.
26.2
Rinus kommt hierher, um sich im Fernsehen den Elf-Städte-Eislauf anzuschauen. Seinen eigenen Fernseher hatte er nach einem enttäuschenden Telefonat kaputt geschlagen
.
16.4.
Rinus kam heute Nachmittag zu Besuch. Er hatte wieder mal eine seltsame Krankheit. Alle Krankheiten, die es auf Gottes Erde gibt, hat er schon gehabt. Nur sein Appetit, der ist in Ordnung. Als Gast lässt er dem Tisch Ehre angedeihen. Man müsste lachen, wenn es sich um einen Fremden handeln würde
.
17.4.
Ich lagere Schilf ein, aber die frühere Begeisterung fehlt. Ich bin müde und am Ende meiner Laufbahn als Reetdachdecker. Innerhalb eines Winters und eines Frühjahrs ging es ziemlich abwärts mit mir. Ein krankes Bein und wenig Atem, das zehrt an der Kraft
.
21.4.
Letzte Nacht ein Regenschauer. Im Garten gedeiht alles sehr gut. Erdbeeren, Johannisbeeren. Die Apfelbäume blühen auch wieder. Das hatte ich nicht erwartet
.
25.6.
Es kommen so viele Dinge von früher in mir hoch. Ein Leben ist lang, und doch geht es schnell vorbei
.
29.6. (Sonntag)
Warm in der Kirche. Langer Gottesdienst. Froh, als der Pfarrer Amen sagte
.
30.6.
Wieder warm. Es wird sehr trocken. Mutter ist draußen beschäftigt, sie mäht den Rasen und räumt mal wieder den Schuppen auf. Meine Hüfte tut mir sehr weh und das drückt auch auf die Stimmung. Dann wird man depressiv. Etwas mutlos trödelt man dann ein bisschen herum. Nicht mehr viel Lust zu arbeiten
.
9.7.
Letzte Nacht ein Gewitter. Es hat herrlich geregnet, ich bin froh darüber. Rinus hat Geburtstag. Er wird vierzig. Ich hoffe, dass die kommenden Jahre ihm Wohlstand und Glück bringen. Wenn er es bloß selbst einsehen und schätzen würde. Wir geben die Hoffnung nicht auf
.
28.7.
Wieder schönes Wetter, zu schön, finde ich, denn es bleibt trocken. Die Zuckerrüben sehen fad und schlaff aus.
18.12.
Heute habe ich Geburtstag. Fünfundsiebzig Jahre. Ganz schön alt. Aber ich bin froh, dass ich noch lebe. Mein Zustand verschlechtert sich zusehends. Das größte Problem ist der Atem. Und dann meine Hüfte. Nun ja, jeder hat irgendetwas. Aber nun ja, ein anderer hat etwas anderes.
1987
15.1.
Sehr kalt. Zwölf Grad unter Null. Ein heulender Nordoststurm. In der Zeitung wird geraten, nicht ohne Grund hinauszugehen. Seltsam.
21.1.
Am Nachmittag ein bisschen Hecken gestutzt. Aber gegen Abend wurde es kalt, neblig und unangenehm. Ich höre auf und kuschle mich in meinen Lederstuhl vor der Heizung. Mit einem schönen Buch. Es geht uns gut.
15.8.
Wir schwimmen ein bisschen auf dem Strom, der uns weitertreibt.
1988
17.1. (Sonntag)
Um halb zehn in die Kirche. Am Nachmittag eine Runde Scrabble gespielt und einen Schnaps getrunken. Das Leben ist gut, daran liegt es nicht. Rinus ist ein Schiff ohne Ruder. Ich hätte es doch so gern anders gesehen. Vielleicht werde ich es noch erleben. Wer weiß
.
7.2.
Zu den Schilffeldern gegangen. Die Welt des Schilfs hat sich verschlechtert. Es machte mich ganz still. Mein Leben ging mir durch den Kopf. Sechzig Winter lang habe ich hier geackert und mich geschunden. Von Kind an, bis man alt und verbraucht ist. Bei Wind und Wetter. Kurz gesagt, so etwas vergisst man nicht. Man kann es sich nicht vorstellen, diese großen Entfernungen mit einer Last Schilfrohr auf dem Rücken. Aber man war nicht oft allein. Manchmal eine gute Pfeife rauchen. Kaffee trinken und etwas
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