Der Stundenzaehler
einer Autobahn entlang, durch einen Tunnel, vorbei an einem vollbesetzten Parkplatz neben einem Stadion, an dem für eine SILVESTER HIP-HOP-PARTY geworben wurde.
Nach seiner Zeitrechnung marschierte Dor zwei Tage lang â nach unserer kaum eine Sekunde â, bis er zu einem dunklen Industriegebiet und zum Gebäude der Kryonik-Firma kam.
Er musste Sarah und Victor zusammenbringen. Vielleicht hatte der Alte das gemeint.
Wie es bestimmt ist .
Dor trug Sarah in das Lagerhaus mit den riesigen Behältern und setzte sie dort ab, an die Wand gelehnt. Dann ging er in den Raum, in dem Victor fürs Einfrieren vorbereitet wurde, hob ihn hoch und brachte auch ihn in das Lagerhaus, wo er ihn neben Sarah setzte. Er fühlte beiden den Puls und spürte nach einer Weile ein extrem langsames Pochen. Sie waren am Leben.
Vielleicht konnte seine Idee doch noch verwirklicht werden.
Dor ging vor den beiden in die Hocke, nahm ihre Hände und presste sie an das Stundenglas.
Er drückte ihre Finger fest an die geflochtenen Streben und hoffte, dass die beiden so mit der Quelle seiner Macht verbunden würden. Dann griff er nach dem Deckel des Stundenglases und zog fest daran.
Der Deckel löste sich und erhob sich, ein blaues Licht verströmend, in die Luft.
Als Dor in den oberen Kolben sah, blickte er direkt auf den feinen weiÃen Sand, der glitzerte wie Diamanten.
Hierin befindet sich jeder Augenblick des Universums.
Dor zögerte. Entweder hatte er Recht, und der Schluss seiner Geschichte blieb vorläufig offen. Oder aber er irrte sich, und sie endete genau jetzt.
Er brachte Daumen und Zeigefinger nahe zusammen, flüsterte »Alli« â falls er starb, sollte dies sein letztes Wort gewesen sein â und stieà seine Hand in den Sand, bis zu der schmalen Ãffnung, die beide Kolben verband.
Sofort wirbelten Millionen von Bildern durch seinen Kopf. Das Fleisch schmolz von seinen Fingern, und sie verwandelten sich in nadeldünne Stöckchen, die sich nun durch die schmale Ãffnung zwängten. Jeder Augenblick des Universums raste durch Dors Geist, als er die Reise antrat und alles durchlebte, was bereits geschehen war und was dereinst geschehen würde.
SchlieÃlich presste Dor mit einer Kraft, die nicht menschlich war, seine beiden nadeldünnen Fingerspitzen zusammen.
In seinen Augen explodierten Farben.
Sein Kopf wurde nach hinten gerissen.
Er hatte ein einziges Sandkorn ergriffen, kurz bevor es am Boden auftraf.
Und nun geschah Folgendes â¦
Von Los Angeles bis Tripolis erstarrten an den Küsten Wellen im Moment des Ãberschlags.
Wolken verharrten an Ort und Stelle. In Mexiko hingen Regentropfen in der Luft fest, und ein Sandsturm in Tunesien gefror zu einem reglosen Wirbel.
Es gab keine Geräusche mehr auf der Welt. Flugzeuge hingen lautlos über Landebahnen. Raucher blieben umhüllt von ihren eigenen Qualmwolken. Telefone waren tot, Bildschirme schwarz. Niemand sprach, niemand atmete. Tag und Nacht veränderten sich nicht mehr, und das Silvesterfeuerwerk in New York sprenkelte den Himmel so bunt, als habe ein Kind das Firmament bemalt und sei dann weggelaufen.
Niemand wurde geboren.
Niemand starb.
Niemand kam näher.
Niemand ging weg.
Die Zeit schritt nicht mehr voran.
Ein Mann.
Ein Sandkorn.
Vater Zeit hatte die Welt angehalten.
Stille
64
Victor hatte schlimmere Schmerzen erwartet.
Er hatte vermutet, dass der Schock, plötzlich eingefroren zu werden, viel unerträglicher als die Schmerzen durch seine Krebserkrankung sein würde.
Bei einer Feier nach einem Sportfest hatte man ihm einmal einen Eimer Eiswasser über den Kopf geschüttet, und seine Nervenenden hatten sich angefühlt wie mit einer Gabel gestochen.
Als er in der Kryonik-Firma die Augen schloss, war er auf das Vielfache dieses Effekts gefasst.
Doch stattdessen fühlte er sich plötzlich seltsam leicht und so beweglich, wie er es lange nicht mehr erlebt hatte.
Victor umklammerte das Bettgeländer, merkte aber dann, dass er nicht diese Stange festhielt, sondern â¦
⦠eine Art Sanduhr, und er befand sich in dem Lagerhaus mit den groÃen Fiberglasbehältern und â¦
Was war passiert?
Victor stand auf.
Kein Schmerz.
Kein Rollstuhl.
»Wer sind Sie?«, fragte eine Mädchenstimme.
65
Sarah glaubte, dass sie das Lenkrad des Autos festhielt.
Doch als sie die Augen öffnete, sah sie, dass ihre Hände eine sonderbare Sanduhr
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