Der Stundenzaehler
hielt sich von anderen Kindern fern und blieb zuhause, um zu lernen, weil ihr Vater das gut gefunden hatte und sie vielleicht in ihrem tiefsten Innersten glaubte, ihm damit nahe zu sein. Jedes Schuljahr schickte sie ihm ihre Noten.
Manchmal antwortete er: »Gut gemacht, Sarah. Weiter so.«
Doch manchmal hörte sie auch nichts von ihm.
Als Sarah in die Oberstufe kam, hatte sie keinen nennenswerten Freundeskreis, und ihr Leben war wenig abwechslungsreich: Laborarbeit, ab und an stöberte sie in Buchläden herum, und am Wochenende saà sie zuhause vor dem Computer. Von Partys hörte sie nur montags in der Schule von den anderen, die mit ihren Erlebnissen angaben.
Ein paar Jungen aus ihrem Mathekurs hatten sich für Sarah interessiert, und sie war auch mit jedem ein paar Mal ausgegangen â ins Kino, zum Schulball, in Videospielhallen. Sie hatte sogar ein bisschen mit den Typen geknutscht, weil sie wissen wollte, wovon die anderen redeten, wenn sie von ihren Erlebnissen erzählten.
Aber irgendwann hatten sich diese Jungen dann alle nicht mehr gemeldet, und im Grunde war Sarah froh darüber. Sie hatte für keinen von ihnen wirklich etwas empfunden und war auch sicher, dass sich daran nichts ändern würde.
Doch mit Ethan war alles anders geworden.
Mit ihm endeten Ãdnis und Langeweile.
Beim Gedanken an ihn wurde alles andere unwichtig.
Für Ethan hätte Sarah alles aufgegeben.
Doch er hatte nie wirklich mit ihr zusammen sein wollen. Und am Ende hatte er sie sogar der Lächerlichkeit preisgegeben und damit ihren Selbstabscheu nur noch bestätigt: Nun hielt Sarah sich endgültig für eine wertlose Person.
Und stürzte in einen Abgrund.
Das alles erzählte sie Victor, dem alten Mann im Bademantel, nachdem er ihr seine Geschichte mit dem Einfrieren und seiner Frau anvertraut hatte.
Sie saÃen hier in diesem unheimlichen Lagerhaus, und Sarah war so konfus und verstört und hatte das unbestimmte Gefühl, dass Victor möglicherweise mehr wusste, als er zugab.
Doch je mehr sie über Ethan sprach, desto heftiger spürte Sarah wieder den Schmerz.
Ãber die letzten Momente in der Garage, den Wodka, den traurigen Song, den laufenden Motor sprach sie nicht mehr.
Sie würde einem wildfremden Menschen nicht erzählen, dass sie versucht hatte, sich umzubringen.
Als Victor fragte, wie sie in dieses Lagerhaus geraten war, konnte sie nur antworten, dass sie keine Ahnung habe und dass sie mit den Händen an einer Sanduhr erwacht sei.
»Und ich erinnere mich noch daran, dass ich getragen wurde.«
»Getragen?«
»Von diesem Mann.«
»Was für einem Mann?«
»Er arbeitet in einem Uhrenladen.«
Victor schaute Sarah an wie vom Donner gerührt.
In diesem Moment hörten sie hinter einem der Behälter ein Geräusch.
69
Dor hustete.
Er schlug die Augen auf, als erwache er, obwohl er seit Tausenden von Jahren nicht geschlafen hatte.
Nachdem er mehrmals geblinzelt hatte, stellte er fest, dass er auf dem Boden lag und Victor und Sarah sich über ihn beugten.
Während Dor sich zu besinnen versuchte, bombardierten die beiden ihn mit Fragen.
»Wer sind Sie?«
»Was ist hier los?«
Dor erinnerte sich an Farbwirbel, gefolgt von abrupter Finsternis, dem Sturz in die Tiefe mit dem Stundenglas ⦠wo war es eigentlich ?
Er sah, dass Sarah es in Händen hielt. Der Deckel war wieder geschlossen.
Da die beiden lebten, waren seine Vermutungen richtig gewesen.
Er konnte jetzt also â¦
Augenblick.
Hatte er gerade gehustet?
»Wie kommen Sie hierher?«, fragte Victor.
»Und ich?«, wollte Sarah wissen. »Bin ich unter Drogen gesetzt worden? Wo ist mein Haus? Und die Garage?«
»Wieso fühle ich mich gesund?«, fragte Victor.
Dor war völlig verwirrt. Er hatte gehustet . In der Höhle hatte er niemals gehustet oder geniest, nicht einmal heftig geatmet.
»Reden Sie mit uns«, verlangte Victor.
»Reden Sie mit uns«, echote Sarah.
Dor blickte auf seine rechte Hand, die er noch immer zur Faust geballt hatte. Seine Finger sahen wieder normal aus. Er öffnete die Hand.
Ein einziges Sandkorn lag darin.
In der Höhle hatte Dor auch ein Wellholz in die Felswand geritzt.
Als Symbol für die Geburt ihres ersten Kindes. In Dors Zeit arbeiteten die Hebammen bei schwierigen Geburten mit Massageöl und Wellholz. Alli hatte laut aufgeschrien, während die Hebammen das Wellholz zum
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