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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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bereits.

Silvester

60
    Es war 20.00 Uhr. Grace kleidete sich vor dem Spiegel an.
    Sie wollte nicht zu dieser Gala. Wenn sie den Scheck übergeben hatte, würde sie so schnell wie möglich wieder zurückkommen.
    Ihr Make-up war fertig, die Haare saßen perfekt. Doch der Reißverschluss ihres Abendkleids musste noch zugezogen werden.
    Das hatte Victor immer für sie gemacht.
    Grace tastete ungeschickt an ihrem Rücken herum, bekam den Reißverschluss nicht zu fassen.
    Nach dem dritten Ansatz gelang es ihr endlich, das Kleid zu schließen.
    Danach kamen die Tränen.
    Sie besserte rasch ihr Make-up aus, ging in die Küche, goss kalten Ingwertee in ein Glas, um es Victor zu bringen.
    Er schien zu schlafen.
    Â»Liebling?«, flüsterte sie.
    Victor schlug die Augen auf und blinzelte. Grace trug ein Satinkleid mit Tüllrüschen und eingearbeiteten Kristallen.
    Â»Wie schön du aussiehst!«
    Grace biss sich auf die Unterlippe.
    Wann hatte Victor ihr zum letzten Mal ein Kompliment gemacht?
    Zu Anfang ihrer Beziehung hatte er das häufig getan, hatte ihr beim Tanzen in Countryclubs ins Ohr geraunt: »Wie fühlt man sich als die hübscheste Frau im ganzen Raum?«
    Â»Ich möchte lieber hierbleiben. Bei dir. Deine Stimme klingt so seltsam …«
    Â»Geh nur. In den paar Stunden kann nicht viel passieren.«
    Â»Versprichst du’s mir?«
    Â»Geh nur in Ruhe.«
    Â»Ich habe dir Tee gebracht.«
    Â»Danke.«
    Â»Achten Sie darauf, dass er ihn trinkt«, sagte Grace zu Roger, der in der Ecke des Wohnzimmers saß.
    Der nickte.
    Grace wandte sich wieder ihrem Gatten zu.
    Â»Gefallen dir diese Ohrringe? Du hast sie mir zum dreißigsten Hochzeitstag geschenkt, weißt du noch?«
    Â»Ja.«
    Â»Ich fand sie immer schon wunderschön.«
    Â»Sie sehen fantastisch aus.«
    Â»In ein paar Stunden bin ich wieder da.«
    Â»Ist gut.«
    Â»Ich beeile mich.«
    Â»Ich …«
    Er verstummte.
    Â»Was denn, Liebling?«
    Â»Ich … bin hier.«
    Â»Gut.«
    Grace küsste ihren Mann auf die Stirn und tätschelte ihm die Brust. Dann stand sie rasch auf und ging hinaus.
    Sie kämpfte mit den Tränen.
    Ihre Absätze klackten auf den Fliesen im Flur.

    Victor fühlte sich innerlich zerrissen und schuldbeladen.
    Sein letzter Satz zu Grace war eine Lüge gewesen.
    Er würde nicht mehr hier sein, wenn sie zurückkam.
    Wenn sie gleich weg war, würde er direkt zur Kryonik-Firma aufbrechen. Das war sein Plan, und nur aus diesem Grund hatte er Grace dazu gedrängt, an der Gala teilzunehmen.
    Beinahe hätte Victor noch einmal nach ihr gerufen.
    Doch dann erfasste ihn ein Schwindelanfall, und sein Kopf sank zur Seite.
    Alles, worauf er sich in den vergangenen Monaten vorbereitet hatte, im Grunde sein gesamtes Leben, würde in den nächsten Stunden zur Vollendung kommen.
    Er durfte jetzt nicht vom Weg abweichen und seinen eigenen Plan ruinieren.
    Und dennoch …
    Er rief Roger zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
    Â»Verstehen Sie?«, krächzte Victor. »Sie dürfen auf keinen Fall zögern, wenn es dazu kommen sollte, okay?«
    Â»In Ordnung«, erwiderte Roger.
    Victor holte mühsam Luft.
    Â»Dann los!«

61
    Es war 20.00. Lorraine kleidete sich vor dem Spiegel an.
    Sie konnte Silvesterpartys nicht leiden, ging aber dennoch jedes Jahr zu einer. Ihre geschiedenen Freundinnen und sie hatten vereinbart, sich an jenen Abenden gegenseitig beizustehen, an denen Einsamkeit besonders schwer zu ertragen war.
    Lorraine sprayte ihre Haare und spähte dann in den Flur hinaus, um zu sehen, ob ihre Tochter inzwischen aufgetaucht war.
    Sarah trug seit fünf Tagen dieselbe schwarze Jogginghose und ein altes grünes T-Shirt und hatte ihr Zimmer kaum verlassen.
    Lorraine machte sich Sorgen. Sie hätte Sarah gerne gefragt, für wen sie die hochhackigen Schuhe getragen hatte, aber auf solche Fragen eine Antwort zu erhoffen war von vornherein aussichtslos. Damit biss sie bei Sarah auf Granit.
    Lorraine dachte an die Zeit zurück, als sie den Jahreswechsel noch zu dritt verbracht hatten.
    An einem Silvester waren sie am Times Square gewesen und hatten zugesehen, wie um Mitternacht der Zeitball abgesenkt wurde. Sarah, die damals sieben Jahre alt war, hatte auf Toms Schultern gesessen und in Honig geröstete Pecannüsse gefuttert, die sie auf der Straße gekauft hatten. Kurz vor Mitternacht hatte es zu

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