Der Stundenzaehler
Einsatz brachten und dabei für sie beteten. Das Kind kam gesund auf die Welt, und Dor hatte sich gefragt, wie ein derart schlichter Gegenstand â ein Wellholz, das man auch in den ärmsten Hütten vorfand â solch einen gewaltigen Vorgang wie eine Geburt beeinflussen konnte.
Ein Asu erklärte ihm später, dass nur ein Zauberwellholz solche Kräfte besäÃe. Und dass die Götter den Zauber wirkten. Wenn die Götter etwas berührten, würde das Gewöhnliche auÃergewöhnlich und das Schlichte wunderbar.
Ein Wellholz, um die Geburt eines Kindes einzuleiten.
Ein Sandkorn, um die Welt anzuhalten.
Nun blickte Dor auf ein junges Mädchen in einer Jogginghose und einen alten Mann im Bademantel, und ihm wurde bewusst, dass er durch die Magie der Elemente bis hierher gekommen war.
Alles Weitere lag nun in seinen Händen.
»Bitte sagen Sie etwas«, bat Sarah mit zittriger Stimme. »Sind wir tot?«
Dor rappelte sich hoch.
»Nein«, antwortete er.
Und zum ersten Mal seit sechstausend Jahren war er müde.
»Ihr seid beide nicht tot«, fuhr er fort. »Ihr befindet euch in der Mitte eines Augenblicks.«
Dor streckte die Hand aus, auf der das Sandkorn lag. »Dieses Augenblicks.«
»Was reden Sie da?«, sagte Victor.
»Die Welt wurde angehalten und damit auch euer beider Leben â obwohl eure Seelen jetzt hier sind.
Was ihr bis jetzt getan habt, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Aber was ihr nun tun werdet â¦Â«
Dor zögerte.
»Was?«, fragte Victor. » Was? «
»Das ist noch offen.«
Sarah und Victor warfen sich einen Blick zu.
Beide dachten an den letzten Augenblick, an den sie sich erinnern konnten.
Sarah im Auto, in sich zusammengesunken, die Lunge voll giftiger Abgase.
Victor in der Lagerhalle, kurz bevor man ihn auf Eis legen und zum medizinischen Experiment machen sollte.
»Wie bin ich hierhergekommen?«, fragte Sarah.
»Ich habe dich getragen«, antwortete Dor.
»Und was passiert nun?«, fragte Victor.
»Es gibt einen Plan.«
»Was für einen Plan?«
»Er ist mir noch nicht bekannt.«
»Wie kann es einen Plan geben, wenn Sie ihn gar nicht kennen?«
Dor rieb sich mehrmals die Stirn und zuckte zusammen.
»Was ist los?«, fragte Sarah.
»Schmerzen.«
»Ich verstehe das nicht. Wieso sind wir in diese Lage geraten?«, fragte Victor.
»Weil euer Schicksal wichtig ist.«
»Wichtiger als das aller anderen Menschen?«
»Nein.«
»Wie haben Sie uns gefunden?«
»Ich habe eure Stimmen gehört.«
»Schluss!« Victor hob die Hände hoch. »Schluss mit diesem Blödsinn. Stimmen? Schicksal? Hören Sie doch auf! Wer sind Sie schon? Ein Angestellter in einem Uhrenladen!«
Dor schüttelte den Kopf. »In diesem Augenblick ist es nicht weise, nur mit den Augen zu urteilen.«
Victor wandte den Blick ab, versuchte sich selbst eine Erklärung zurechtzulegen, wie er es immer tat, wenn andere sich als unfähig erwiesen.
Dor hob den Kopf. Ãffnete den Mund. Und sprach mit der Stimme eines neunjährigen französischen Jungen.
» Bitte mach, dass wieder gestern ist .«
Victor erkannte seine Kinderstimme und starrte Dor fassungslos an.
Dann wurde Dors Stimme tiefer.
» Noch ein Leben .«
Dor wandte sich zu Sarah.
» Es soll aufhören «, sagte er mit ihrer Stimme.
Sarah und Victor waren sprachlos. Woher kannte dieser Mann ihre geheimsten Wünsche?
»Bevor ich zu euch kam«, sagte Dor, »seid ihr zu mir gekommen.«
Sarah betrachtete ihn prüfend.
»In Wirklichkeit reparieren Sie gar keine Uhren, oder?«
»Mir ist es lieber, wenn sie nicht funktionieren«, antwortete Dor.
»Und warum?«, fragte Victor.
Dor blickte auf das Sandkorn in seiner Hand.
»Weil ich der Sünder bin, der sie erfunden hat.«
Zukunft
70
In Dors glücklicherer Zeit auf Erden stellte ihm sein Sohn einmal eine ungewöhnliche Frage.
»Wen werde ich heiraten?«
Dor lächelte und antwortete, das wisse er nicht.
»Aber du hast doch gesagt, die Steine können dir sagen, was geschehen wird.«
»Die Steine können mir vieles sagen«, erwiderte Dor. »Sie sagen mir, wann die Sonne aufgehen und wann sie untergehen wird und wie viele Nächte noch verstreichen werden, bis der Mond so rund ist wie dein Gesicht.«
Er drückte die Wangen seines Sohnes.
Der Junge
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