Der Stundenzaehler
dann in der Finsternis verloren.
Sarah umklammerte Victors Hand.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
Sie nickte, hielt seine Hand aber noch fester und zitterte, als erwarte sie ein schreckliches Schicksal.
Sie ist ganz anders als ich , dachte Victor.
Er war gespannt darauf, was sich als Nächstes ereignen würde. Sarah musste etwas Schlimmes erlebt haben. So klug sie auch sein mochte, war sie offenbar auch sehr verletzlich.
Nun ging es abwärts, in eine Nebelbank.
Als der Nebel sich lichtete, fanden sie sich in einem Lagerhaus wieder, zwischen Regalen voller Getränke und Lebensmittel.
»Wo sind wir?«, fragte Victor.
Dor antwortete nicht. Doch Sarah erkannte den Ort auf Anhieb: Hier hatte ihr schicksalhaftes Treffen mit Ethan stattgefunden.
» Lass treffen im Lager von meinem Onkel, wenn du Bock hast .«
Diesen Abend hatte sie im Geiste so oft durchlebt â die Küsse, das Trinken, das Ende. Und da war er plötzlich, der Junge ihrer Träume, und kam auf sie zu.
Sarah sog scharf die Luft ein.
Doch er ging an ihr vorbei, ohne zu reagieren.
»Kann er uns nicht sehen?«, fragte Victor.
»Wir befinden uns nicht in seiner Zeit«, erklärte Dor. »Sondern in jener Zeit, die noch kommen wird.«
»In der Zukunft?«
»Ja.«
Victor bemerkte Sarahs Miene.
»Ist das der Typ?«, fragte er.
Sarah nickte. Das Herz tat ihr weh bei Ethans Anblick.
Wenn das die Zukunft war â gab es sie dann gar nicht mehr?
Bereute Ethan vielleicht sein Verhalten?
Er war allein, tippte etwas auf seinem Handy.
Vielleicht dachte er ja an sie?
Vielleicht war er deshalb hierhergekommen.
Vielleicht trauerte er um sie, betrachtete ihr Profilbild auf Facebook, wie sie immer sein Bild betrachtet hatte .
Sarah wollte gerade auf ihn zugehen, als er lächelte, den Daumen hob und »Hah!« machte. Ein Piepen lieà darauf schlieÃen, dass er mit einem Videospiel beschäftigt war.
Es klopfte an der Tür, und Ethan öffnete sie. Ein Mädchen in Sarahs Alter mit blonden aufgestylten Haaren kam herein, die Hände in den Hosentaschen. Sie war stark geschminkt.
»Hey, alles klar?«, sagte Ethan.
Sarah zuckte zusammen. Dieser Spruch .
Die beiden unterhielten sich, und das Mädchen sagte, es sei ungerecht, dass man Ethan beschuldige.
»Ganz genau«, erwiderte er. »Ich hab nichts getan. Sie war selbst schuld. Das Ganze ist völlig aus dem Ruder gelaufen.«
Das Mädchen zog den Mantel aus und fragte, ob man etwas aus den Regalen essen dürfe. Ethan griff nach zwei Packungen Cracker und einer Flasche Wodka.
»Suff bringtâs immer«, sagte er.
Sarah fühlte sich so schwach, als habe ihr jemand in die Kniekehlen getreten. Sie hatte geglaubt, Ethan würde sein Benehmen bereuen und ebenso leiden wie sie.
Doch sich selbst zu schaden, um anderen Leid zuzufügen, ist lediglich ein Schrei nach Liebe.
Und als Sarah nun Ethan dabei zusah, wie er Wodka in zwei Pappbecher goss, wurde ihr klar, dass dieser Schrei von ihr ebenso wenig erhört wurde wie ihre Gefühle, die sie Ethan auf dem Parkplatz offenbart hatte.
Ihr Tod war ebenso bedeutungslos wie ihr Leben.
Sie sah Dor gequält an.
»Warum haben Sie mich hierhergebracht?«, sagte sie.
Die Wände schienen zu schmelzen, die Umgebung veränderte sich. Sie befanden sich nun in dem Heim, in dem Sarah samstags arbeitete. Die Obdachlosen standen Schlange, um sich Frühstück zu holen.
Der Haferbrei wurde jetzt von einer älteren Frau ausgegeben.
Ein Mann mit blauer Mütze trat vor.
»Wo ist Sarah?«, fragte er.
»Ist heute nicht da«, antwortete die Frau.
»Sarah gibt mir immer noch Bananen dazu.«
»Okay, hier hast du Bananen.«
»Ich mag das Mädel. Ist ziemlich still, aber ich mag sie echt gern.«
»Wir haben schon seit ein paar Wochen nichts mehr von ihr gehört.«
»Ich hoffe, es geht ihr gut«, sagte der Mann.
»Ja, das hoffe ich auch.«
»Ich werd für sie beten.«
Sarah blinzelte. Sie hatte nicht angenommen, dass jemand im Heim ihren Namen kannte. Und sie wäre niemals auf die Idee gekommen, dass man sie vermisste, wenn sie nicht da war.
Ich mag das Mädel. Ist ziemlich still, aber ich mag sie .
Sarah sah zu, wie der Mann sich zu den anderen Obdachlosen setzte. Trotz ihrer schlimmen Lebensumstände versuchten diese Männer, durchzuhalten und das Beste aus ihrem Leben zu machen.
Sarah fragte sich,
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