Der Sturm
ihm auch nicht erzählt, dass sie heute am Vorabend zum Remembrance Day hier heraufmusste, egal wie schlecht das Wetter war.
Morgen würden sie zusammen wegfahren. Etwas in ihr fürchtete sich davor, die nächsten Tage allein mit ihm zu verbringen. Wie lange würde sie durchhalten, ohne ihm etwas über ihre Vergangenheit zu erzählen? Immer wieder stellte er Fragen. Nach ihren Eltern, der Schule, auf die sie gegangen war, nach ihrem Leben in London. Es fiel ihr so schwer, ihm ständig Lügen aufzutischen.
Der Anstieg wurde jetzt steiler, mehrfach rutschte sie auf dem schlammigen Untergrund aus und musste sich an vorspringenden Wurzeln festhalten. Der Regen drang selbst hier im dichten Wald bis auf die Knochen, auch wenn sie vom Wind weitgehend geschützt war.
Gott sei Dank war es nicht mehr weit.
Julia hätte den Weg im Schlaf gehen können. Sie erinnerte sich, wie sie auf den Gedenkstein gestoßen war. Ein halbes Jahr war inzwischen vergangen, seit sie in Panik durch den Wald gestürzt war und die Lichtung gefunden hatte. Hier hatte sie das erste Mal den Namen ihres Vaters Mark de Vincenz auf dem Grabstein gelesen.
Inzwischen brauchte Julia nicht länger als eine Viertelstunde von der Brücke bis zur Lichtung.
Gleich, gleich würde sie da sein.
Und dann blieb sie irritiert stehen. Etwas war anders als sonst. Der Lichteinfall durch die Bäume. Es musste an diesem verdammten Wind der letzten Tage liegen. Vermutlich hatte er einige Bäume umgestürzt.
Nein, etwas anderes war passiert. Die schlanken hohen Fichten, die früher hier dicht an dicht gestanden hatten, waren gefällt worden und die Stämme spurlos verschwunden.
Entstanden war eine kreisrunde Lichtung, in deren Mitte sich der Gedenkstein wie ein Mahnmal in den Himmel erhob. Und jemand hatte das Efeu vom Gedenkstein entfernt und den Stein gereinigt. Die Namen, bis vor Kurzem noch verwittert und kaum lesbar, sprangen ihr nun geradezu entgegen.
Und noch etwas.
Julia gab keinen Laut von sich, aber in ihrem Inneren bildete sich ein Schrei.
Etwa einen Meter neben dem Stein war ein hohes Kreuz aus frischem Holz aufgestellt worden. Und daneben erkannte sie ein dunkles Rechteck. Frisch aufgeworfene Erde türmte sich am Kopfende.
Julia brauchte einen Moment, um zu begreifen, was sie da vor sich hatte. Doch dann fuhr sie herum und rannte.
Dort, wo das Kreuz stand, hatte jemand ein Grab ausgehoben. Und während Julia sich ihren Weg blindlings durch das Unterholz suchte, wiederholte sie in ihrem Kopf immer dieselben Zeilen.
Herr!
Wir bitten dich, erhöre uns!
1. Kapitel
D er 11. November. Endlich!
Chris starrte durch die Regenschlieren hinunter auf den Parkplatz des Campus. Der Regen schien über Nacht etwas nachgelassen zu haben, obwohl der Himmel noch immer wolkenverhangen war und der Wind kräftiger blies als am Tag zuvor. Und immer wieder tauchten vereinzelt Schneeflocken auf, die an der Fensterscheibe kleben blieben, weiß und durchscheinend wie die Flügel lästiger Fliegen, als würden sie angezogen vom Licht in seinem Zimmer.
Es war nicht später als neun Uhr morgens und draußen auf dem Collegecampus herrschte reges Treiben, wenn nicht sogar Chaos. Die Studenten luden vollbepackte Rucksäcke, Taschen und Koffer in die bereitstehenden Autos und Busse, bevor sie selbst einstiegen. Chris beobachtete grinsend, wie Ike, die schwarze Dogge, sich weigerte, in den Kofferraum von Professor Brandons alten Chrysler zu springen. Kläffend sprang er um den Wagen herum und der Philosophieprof versuchte vergeblich, ihn anzuleinen.
Erst gestern hatte Brandon ihnen einen Vortrag über Friedrich Nietzsches Theorie »Über den Willen zur Macht« erzählt und dabei hatte er nicht einmal seinen Hund im Griff.
Chris sah nun bereits zum x-ten Mal auf die Uhr. 09:10 Uhr.
Nicht mehr lange und auch er würde hier oben verschwunden sein.
Vier Tage nur er und – Julia. In einem Zimmer, in einem Bett. Sie konnten tun und lassen, was sie wollten, sie konnten sich... endlich richtig kennenlernen.
Mann, er hatte so viele Stunden für dieses Wochenende gearbeitet. Dutzende Essays für Mitstudenten verfasst, um sich das Ganze leisten zu können. Und es hatte noch einmal so lange gedauert, bis er Julia überreden konnte, überhaupt mitzukommen.
Chris war zwölf gewesen, als seine Mutter seinen Vater verließ, weil er Alkoholiker war und zudem einen gewaltigen Berg Schulden angehäuft hatte. Chris trug Zeitungen aus, um seine Mutter zu unterstützen, und arbeitete später
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