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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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seine Konspiration nicht der Rede wert, aber ein Riesenvermögen für ein Orakel zu verschleudern, wo es doch so billig zu haben war … Zum Glück züngelte, wie jedes Jahr in Theben, eine kleine Pest rund um die Kadmeia, raffte einige Dutzend dahin, meist unnützes Gesindel, Philoso-phen, Rhapsoden und andere Dichter. Laios schickte seinen Sekretär nach Delphi, mit gewissen Vorschlägen und zehn Goldmünzen: für zehn Talente tat der Oberpriester alles; elf Talente hätte er schon ins Hauptbuch eintragen müssen. Das Orakel, das der Sekretär von Delphi zurückbrachte, lautete, die Pest, die sich inzwischen verzogen hatte, werde erlöschen, wenn ein Drachenmann sich opfere. Nun, die Pest konnte wieder auflodern. Poloros, der Wirt, beteuerte, er stamme überhaupt nicht von Poloros, dem Drachenmann ab, das sein ein bösartiges Gerücht. Menoikeus, als nun einziger noch vorhandener Drachenmann, mußte auf die Stadtmauer steigen und sich hinabstürzen, es ging nicht anders, aber eigentlich war Menoikeus ganz froh, sich der Stadt opfern zu dürfen, seine 108

    Begegnung mit Tiresias hatte ihn finanziell ruiniert: er war zahlungsunfähig, die Arbeiter murrten, der Marmorlieferant Kapys hatte seine Lieferungen längst eingestellt, ebenso die Ziegelbrennerei; der Ostteil der Stadtmauer war eine hölzerne Attrappe, die Statue des Kadmos auf dem Ratsplatz aus bron-zebemaltem Gips, beim nächsten Platzregen hätte sich Menoikeus ohnehin das Leben nehmen müssen. Sein Sturz vom Südteil der Stadtmauer glich dem Fall einer ohnmächtig ge-wordenen Riesenschwalbe, feierliche Gesänge der Ehrenjung-frauen bildeten den akustischen Hintergrund; Laios drückte Iokastes Hand, Kreon salutierte. Aber als Iokaste Ödipus gebar, wurde Laios stutzig. Natürlich glaubte er dem Orakel nicht, es war absurd, daß sein Sohn ihn töten werde, aber, bei Hermes, hätte er nur gewußt, ob Ödipus wirklich sein Sohn war, er gab ja zu, irgend etwas hatte ihn gehindert, mit seiner Frau zu schlafen, die Ehe war ohnehin eine Vernunftehe, er hatte sich mit Iokaste vermählt, um etwas volkstümlicher zu werden, denn, bei Hermes, Iokaste mit ihrem vorehelichen Lebenswan-del war populär, die halbe Stadt war mit Laios liiert; wahrscheinlich war es nur ein Aberglaube, der ihn hinderte, mit Iokaste zu schlafen, doch die Idee, sein Sohn könne ihn töten, war irgendwie ernüchternd, und, offengestanden, Frauen mochte Laios überhaupt nicht, er zog ihnen die jungen Rekru-ten vor, aber im Suff mußte er vielleicht doch wohl hin und wieder mit seiner Frau geschlafen haben, wie Iokaste behauptete, er wußte es nicht so recht, und dann dieser verdammte Gardeoffizier – am besten, man ließ das Balg, das da plötzlich in der Wiege lag, aussetzen.
    Die Pythia hüllte sich fester in ihren Mantel, die Dämpfe wurden plötzlich eisig, sie fror, und wie sie fror, sah sie wieder das blutverkrustete Antlitz des zerlumpten Bettlers vor sich, das Blut schwand aus den Augenhöhlen, blaue Augen blickten sie an, ein wildes, aufgerissenes, ungriechisches Gesicht, ein Jüngling stand vor ihr, es war wie einst, als Pannychis Ödipus 109

    mit ihrem erfundenen Orakel zum Narren halten wollte. Er wußte damals, dachte sie, daß er nicht der Sohn des Königs von Korinth, Polybos, und seiner Gemahlin Merope war, er hat mich getäuscht!
    »Natürlich«, antwortete der Jüngling Ödipus durch die Dämpfe hindurch, welche die Pythia immer dichter umgaben,
    »ich wußte es immer. Die Mägde und Sklaven haben es mir erzählt und auch der Hirte, der mich im Gebirge Kithairon fand, einen hilflosen Säugling, dem man die Füße mit einem Nagel durchbohrt und zusammengebunden hatte. Ich wußte, daß ich so dem König Polybos von Korinth übergeben worden war. Zugegeben, Polybos und Merope waren gut zu mir, aber sie waren nie ehrlich, sie fürchteten sich, mir die Wahrheit zu sagen, weil sie sich etwas vormachten, weil sie einen Sohn haben wollten, und so brach ich nach Delphi auf. Apoll war die einzige Instanz, an die ich mich wenden konnte. Ich sage dir, Pannychis, ich glaubte an Apoll, und ich glaube noch immer an ihn, ich hatte Tiresias als Vermittler nicht nötig, aber ich kam nicht mit einer echten Frage zu Apoll, ich wußte ja, daß Polybos nicht mein Vater war; ich kam zu Apoll, um ihn hervorzu-locken, und ich lockte ihn aus seinem göttlichen Versteck hervor: Sein Orakel, das mir aus deinem Munde entgegen-dröhnte, war nun wirklich scheußlich, wie es die Wahrheit ja wohl immer ist,

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