Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
Vom Netzwerk:
das Einkaufen lästig, aber Marie ging ganz darin auf, und auch das dichteste Gedränge in der Fußgängerzone konnte ihre gute Laune nicht trüben. Eingeladen für den 24. Dezember waren Jan, Maries schwuler Busenfreund, mit dem ich mich schon bei der ersten Begegnung auf Anhieb gut verstanden hatte, Maries Bruder Marko mit seiner Freundin Nina – und Alicia, eine Halb-Mexikanerin. Sie arbeitete zusammen mit Marie in einer Buchhandlung. Vom Einkaufsstress abgesehen vergingen die Tage bis zum Heiligen Abend in glücklicher Stille. Wir machten lange Spaziergänge durch Winterwälder und über Schneefelder, erzählten uns dabei schöne und traurige Geschichten aus unserer Vergangenheit – oder schwiegen ganz einfach. Schon damals, obgleich wir uns noch gar nicht lange kannten, war es schön, mit Marie zu schweigen. Nicht das geringste Gefühl von Peinlichkeit oder Unsicherheit kam auf. Meine Erfahrungen hatten mich gelehrt: Wenn du mit einer Frau schweigen kannst – und wenn du sie schlafend noch süßer findest als ohnehin schon -, dann hat es dich erwischt.
    Und es hatte mich erwischt, denn beides traf auf Marie zu. Bis zu ihrem Tod liebte ich es so sehr, sie im Schlaf zu beobachten. Oft saß ich bei Dämmerlicht lange neben ihr im Bett und schaute sie nur an. Wie sie dalag, zusammengerollt, einem Kind gleich, leicht pustend manchmal, so verletzlich, so unschuldig. Ich streichelte ihr dann immer über die Wangen. Und immer sagte sie am nächsten Tag, sie hätte es nicht bemerkt, aber ich bin sicher, sie hatte es bemerkt – und sich sehr darüber gefreut, denn nach meinen Liebkosungen meinte ich stets eine kleine Glückseligkeit in ihrem Gesicht zu sehen, die mich dann noch mehr anrührte.
    Eigentlich hätte ich damals den Heiligen Abend am liebsten mit ihr alleine verbracht. Schneewandern, vor ihrem Kamin sitzen, ein kleines Essen zu zweit, Musik hören oder in ein Konzert gehen: Das wäre nach meinem Geschmack gewesen. Aber Marie war im Gegensatz zu mir ein Gruppenmensch. Sie mochte Gesellschaften und fühlte sich in der Rolle der Gastgeberin sehr wohl. Also hatte ich keinerlei Anstalten gemacht, ihr die Heilig-Abend-Party auszureden, sondern sie sogar noch dazu ermutigt, um nicht den geringsten Verdacht aufkommen zu lassen, mir sei das Ganze lästig oder gar zuwider. In unseren späteren Jahren war ich weniger rücksichtsvoll, der Eigenbrötler in mir ging strikt seinen Weg und kümmerte sich dabei viel zu wenig um Maries Gefühle.
    Schon am Vormittag hatten wir eine Menge zu tun. Ich holte unsere schöne Tanne aus dem Keller und baute sie auf, was sich zunächst als schwierig erwies, weil sie nicht in den Christbaumständer passte. Nach längerem Sägen und Schnitzen aber klappte es doch, und sie stand wie eine Eins. Dann schmückte ich sie und brach dabei sämtliche Tabus der Dekorationskunst. Mir machte es richtig Spaß, mit all den Schleifen, Figuren, Kerzen, Kugeln, Lamettabüscheln, Holzäpfeln und Schokoladensternen zu hantieren – und längst verloren geglaubte Erinnerungen an meine frühe Kindheit erwachten, je augenscheinlicher sich die dunkelgrüne Tanne in einen glitzernden Weihnachtsbaum verwandelte. Das vollendete Werk konnte sich dann aber durchaus sehen lassen, und ich rückte es genau in die Mitte des Wohnzimmers.
    Marie wirbelte unterdessen durch ihre kleine Küche und bereitete das »große Fressen« vor. Da ich nie ein begnadeter Koch gewesen war und mich das Zubereiten von Speisen nicht sonderlich interessierte, überließ ich ihr das Revier »Küche«. Dafür ging ich gegen Mittag noch einmal in die Stadt, um ein paar Flaschen Krim-Sekt zu kaufen. Marie meinte, Krim-Sekt eigne sich vortrefflich als Aperitif. Also bummelte ich in Richtung Supermarkt und konnte gar nicht glauben, dass etwa zwei Stunden vor Ladenschluss immer noch so viele Leute unterwegs waren.
    Ich musterte die Gesichter der Vorbeieilenden und sah darin alles, nur keine weihnachtliche Vorfreude oder gar Gelassenheit. Was meine Verachtung für den von Jahr zu Jahr schlimmer werdenden Konsumwahn noch steigerte. Aber meine Geringschätzung schlug jäh in Unruhe, fast Panik um, als ich bemerkte, dass der Krim-Sekt im Supermarkt restlos ausverkauft war. Und so mischte auch ich mich unter die herumhetzenden Passanten, lief von Laden zu Laden, und erst in letzter Minute vor Torschluss ergatterte ich das ersehnte Gesöff.
    Unsere Gäste erwarteten wir so gegen sechzehn Uhr. Als Letzte kam Alicia. Zwar hatte ich sie schon einmal

Weitere Kostenlose Bücher