Der Tag an dem die Sonne verschwand
schon etwas taut. Die Luft riecht nicht mehr nach Frost. Ich beobachte alles von meinen Fenstern aus.
Bei den letzten größeren Veränderungen der äußeren Umstände war ich ja sehr aufgeregt gewesen. Das ist jetzt nicht der Fall. Ich bin ganz ruhig.
Seit nunmehr fünf Tagen nehme ich keine Tabletten mehr ein. Die Stimmungsschwankungen sind abgeklungen. Ich fühle mich leer – und das ist weder ein gutes noch ein schlechtes Gefühl. Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich aus mir heraustreten, mich ein paar Meter von mir selbst entfernen, um dann mein zurückgelassenes Ich von außen zu beobachten. Ich sehe mich zum Beispiel am Fenster stehen, wie ich alles sachlich registriere, blicke tief hinein in mein Inneres und lese meine eigenen Gedanken, die um die Fragen kreisen: Was geschieht, wenn der Frost weg ist? , und Was bedeutet das für mich?
Habe ich es den neuen Wetterveränderungen zu verdanken, dass ich nicht wieder in Schmerz und Schwermut abstürze? Verdrängt meine Neugierde die Verzweiflung? Oder gibt es vielleicht, trotz allem, was geschehen ist, noch einen ganz kleinen Rest Hoffnung in mir?
Aber auf was sollte ich hoffen?
Ich spreche nicht mehr laut mit Finn. Aber ich bete zu ihm. Immer am Abend vor dem Einschlafen. Das tut mir gut. Und ich schäme mich dessen nicht. Wobei das Gebet oft in eine Zwiesprache umschlägt. Ja, mein Gehirn bastelt dann seine Antworten aus der Gesamtheit meiner Erinnerungen an ihn zusammen – nach dem Motto: So würde er es sehen. Das würde er jetzt sagen.
Und dann höre ich ihn in mir – und sehe ihn vor meinem geistigen Auge, wie er lächelt oder wie er mich mit ernster Miene anschaut.
Heute Nachmittag habe ich mir die schreckliche Frage gestellt:
Wenn du eine Person zurückholen könntest, auf wen würde deine Wahl fallen – auf Marie oder auf Finn?
55. EINTRAG
Einen Tag später. 9.30 Uhr. Es ist heller geworden! Finn! Viel heller, als du es kennst!
Viel, viel heller!
Wie soll ich es dir erklären? Es sieht so aus, als wäre heute ein ausgesprochen trüber und stark bewölkter Novembermorgen. Die ganzen letzten Wochen, das weißt du ja, vergingen die Tage in tiefer Dämmerung. Aber jetzt kann ich vom Fenster aus schon bis zu den Hochhäusern am Rande der Stadt blicken, und die dichten Wolken sind als solche erkennbar.
Betrachte ich den Himmel genauer, sehe ich sogar vereinzelt noch hellere Stellen. Dort ist die Wolkendecke offensichtlich dünner. Könnte sie gar aufbrechen? Ist dahinter die Sonne?
Die Temperatur liegt bei null Grad. Von der Dachrinne meines Nachbarhauses tropft es. Dort muss es also noch ein wenig wärmer sein. Wie intensiv mir dieses Geräusch vorkommt! Nach all den Monaten der Weltenstille.
Wie würden wir beide uns jetzt freuen, Finn! Und wie aufgeregt wären wir! Sicher hätten wir auch etwas Angst vor den Veränderungen. Man weiß ja nicht, wohin das alles führt. Aber es sind gute Veränderungen: Es wird heller, es wird wärmer. Bestimmt würden wir Pläne schmieden und feiern, ja, bestimmt sogar die Sektkorken knallen lassen. Und du wärst sicher wieder viel optimistischer, als ich es bin …
Du hast nie ein böses Wort zu mir gesagt, Finn.
Und ich keines zu dir. Du hast mich aus meiner Vergangenheit herausgerissen und mir neue Gegenwart geschenkt. Ich war so ehrlich zu dir wie niemals zuvor zu einem anderen Menschen.
Du hast mich vorbehaltlos angenommen und mein Leben so sehr bereichert. Ich möchte nicht darüber mutmaßen, was wir beide noch alles hätten tun können. So etwas zu denken, wäre wie Salzsäure trinken. Und ich weiß, dass du mir das verbieten würdest.
Du hast so viel Richtiges und Kluges gesagt. Die Monate mit dir waren unvergleichlich.
Welch eine Fügung, dass wir uns getroffen haben.
Ich will in deinem Sinne handeln. Mein Verhalten, meine Taten sollen deinem Anspruch gerecht werden. Ich will bei allem, was ich tue, dich sehen, wie du mir zunickst und mir zu verstehen gibst: Ja, das ist die richtige Entscheidung, so hätte ich es auch gemacht.
Und schon jetzt will ich damit beginnen! Ich werde dich nicht mehr ansprechen, weder laut noch in Gedanken oder hier in meinen Aufzeichnungen. Ich weiß, dass du bei mir bist – aber du bist Vergangenheit. Und ich muss dich loslassen. Mein Finn!
56. EINTRAG
Viele Tage später. Der Schnee schmilzt. Der Himmel ist noch heller geworden. Die Stimmung draußen ist seltsam. Ich habe den Eindruck, als würde die Welt ein wenig zu atmen beginnen.
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