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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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Überall tropft es. Man sieht es, man hört es.
    Ich halte mich nur in der Wohnung auf, rauche übermäßig viel und esse kaum mehr. Ab und zu eine Scheibe Brot, dazu Käse oder Schinken, was gerade zur Hand ist. Mir scheint der Geschmackssinn abhanden gekommen zu sein. Nur extrem Salziges, stark Gesüßtes oder sehr Würziges kann ich noch identifizieren. Alle anderen Speisen schmecken gleich. Einfach nur fad. Ich habe keinen Hunger – und keinen Spaß am Essen. Wohingegen das Trinken mir noch eine gewisse Freude bereitet. Auf knapp zwei Liter Kaffee oder Tee komme ich am Tag. Ich schlafe wenig. Und des Nachts, wenn ich kein Auge zutun kann, lese ich in der Edda, lese Heldengesänge, Götterdichtungen – oder in der Bibel.
    Ob man verhungern kann, ohne dabei Schmerzen zu empfinden?

57. EINTRAG
    Ich werde zunehmend müder. Und nachdem ich den Kaffee abgesetzt habe und nur noch Kräutertee trinke, gelingt auch der Nachtschlaf wieder. Bis zu zwölf Stunden dauert er manchmal. Ich glaube, er ist traumlos; jedenfalls kann ich mich an nichts erinnern, wenn ich aufwache. Es ist schön, einzuschlafen. Ich schwebe dann hinein in das Nichts, fürchte nichts, erwarte nichts – und binnen Minuten bin ich ohne Bewusstsein. Was für ein angenehmer Zustand.
     
    Die Welt draußen zerfließt, so scheint es von hier oben. Einige Dächer sind schon gänzlich ohne Schnee; nicht weil alles weggetaut wäre, sondern weil die Schneemassen durch die Wärme ins Rutschen gekommen sind – und nun liegen weiße Berge in den Innenhöfen oder direkt vor den Häusern auf der Straße. Von den Bäumen fallen die Blätter ab; sie waren ja voriges Jahr binnen Kürze erstarrt, und dann hatte der Frost sie an den Zweigen gehalten. Meine Thermometer zeigen plus fünf Grad an. Auch tagsüber schlafe ich nun hin und wieder. Vorhin habe ich meine Haare notdürftig geschnitten, mich rasiert und gewaschen. Das war dringend nötig. Jetzt sitze ich erschöpft am Tisch, schaue gedankenverloren in mein Zimmer und schreibe.
     
    Die gestiegene Temperatur draußen hat zur Folge, dass ich weniger heizen muss. Das ist gut, denn ich brauche nicht mehr so oft in die Anna-Thomas-Wohnung zu gehen, um Briketts, Kohlen oder Holz zu holen.
     
    Manchmal stehe ich lange an meinem geöffneten Wohnzimmerfenster und blicke hinaus über die Stadt. Ich atme dann die milde Luft sehr bewusst ein und berühre mit meinen Händen die nassen Dachpfannen. Ganz in der Ferne, im Westen, sind die Stadtwälder gut erkennbar. Dort taut es in diesem Moment ja auch. Sicher tropft es von jedem Zweig. Ob die Bäume und Pflanzen die lange Kälte und Dunkelheit überstanden haben? Wie es wohl jetzt im Wald riecht?

58. EINTRAG
    Ich schlafe viel. Bin immer erschöpft und sehr müde. Die letzten Tage war ich nur wenige Stunden wach. Dass so etwas möglich ist! Ich habe keine Schmerzen, und abgesehen von der Müdigkeit, die mich jedoch nicht stört, geht es mir körperlich nicht schlecht.
     
    Die Temperatur ist weiter angestiegen, auf fast zehn Grad. Unglaublich. Dafür liegt die Stadt jetzt in Matsch und Nässe, wirkt finster und hart. Kein schöner Anblick. Aber die Luft gefällt mir sehr. Ich sitze gerne am geöffneten Fenster, um sie zu atmen und auf meiner Haut zu spüren. Und meine Augen gieren nach der kleinen Helligkeit des Himmels. Vorhin habe ich dabei sogar eine Scheibe Brot gegessen. Ansonsten mache ich nichts mehr. Auch das Lesen strengt mich zu sehr an. Allerdings kümmere ich mich noch um den Ofen und um meine Körperhygiene.
     
    Am Fenster habe ich gerade bemerkt, dass eine ganz leichte Brise aufkommt. Und auch die Wolkendecke ist ein klein wenig in Bewegung geraten.
    Ob das Eis auf den Flüssen schon gebrochen ist? Wie die tote Welt dort draußen wohl ganz ohne Schnee aussehen mag? Wenn es so warm bleibt, wird in einigen Wochen alles weggetaut sein. Ob es irgendwann zu regnen beginnt?
    Mein Ofen knistert, und es riecht nach verbranntem Holz. Ich habe stark an Gewicht verloren in letzter Zeit, sehe sehr abgemagert aus. Seit ein paar Tagen zittern meine Hände etwas, und die Lippen sind aufgesprungen.
     
    Aus welcher Himmelsrichtung der Wind wohl kommt? Ich werde mal eben aufstehen, zum Fenster gehen und es zu erkunden versuchen.
     
    Von Süden weht der Wind! Und ich habe den Eindruck, dass er jetzt sogar noch etwas kräftiger geworden ist.
    Ich fühle mich sehr matt. Der Ofen ist gut versorgt mit Briketts. Also lege ich mich jetzt wieder hin und werde etwas schlafen.

59.

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