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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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blicke ich ins Dunkel. Ich erinnere mich zwar an vieles, ja, aber es ist so unendlich weit weg. Ich muss immerzu nach draußen schauen.
    Dieses Licht! Diese Farben!
    Leben ist Licht!
     
    Gerade bemerke ich, wie heftig meine Hände zittern – und wie abgemagert sie sind! Dass ich überhaupt noch lebe! Ich habe so wenig gegessen in letzter Zeit. Ob ich mir einen Brei kochen soll? Einen warmen, süßen Haferbrei, ja, darauf hätte ich jetzt Appetit. Und dazu ein Glas Apfelsinensaft!
     
    Wie warm es wohl draußen noch werden wird? Meinen Ofen kann ich jetzt ausgehen lassen. Stille überall, wunderbare, friedvolle Stille. Warum ist die Sonne zurückgekommen? Ach, was frage ich nach dem Warum!
    Ich werde gleich etwas essen und mich dann mit nacktem Oberkörper an das geöffnete Fenster setzen und mich besonnen lassen. Nur so dasitzen im warmen Licht – welch ein Genuss! Welch ein Leben! Wie irreal doch alles ist.
     
    Ohne die Sonne würde ich jetzt noch schlafen – und ich würde immer länger schlafen, immer mehr schlafen. Vielleicht wäre ich irgendwann nie wieder aufgewacht. Die dunkle Geborgenheit meines Bettes erscheint mir im Moment wie eine Gruft. Übrigens habe ich meine Schlafdecke und die Kopfkissen auf mehrere Stühle verteilt und sie so platziert, dass jeder im prallen Sonnenlicht steht. Was die Sonnenflut in meinem Zimmer so alles sichtbar macht: Staub, Flusen, Fingerabdrücke an den Glasscheiben meines Schrankes, vergilbte Tapetenstellen direkt hinter dem Ofen und in den Ecken der Zimmerdecke, Aschereste auf dem Boden und so weiter. Dennoch wirkt der ganze Raum freundlicher und größer. Vorher war er lediglich eine Höhle, in der Kerzen brannten. Ich habe den Eindruck, als würde sich sogar die tote Materie, die Wände, die Kissen, der Teppichboden und die Möbel, an den hellen Strahlen laben und sie aufsaugen.
    So viele Monate Nacht: Und ich bin nicht gestorben. Ich habe alles überlebt. Alles. Geschwächt wie von einem Todeskampf sitze ich nun hier und schaue hinaus in den Himmel, der sich schön und azurn über die Stadt spannt, als wäre nichts geschehen – gar nichts.
    Ich bin überwältigt …

61. EINTRAG
    Fünf Tage später. Die Sonne ist tatsächlich zurückgekehrt!
    Sie war stärker als alle Dunkelheit.
    Am Ende des ersten Sonnentages hatte ich Angst, sie würde vielleicht nicht wiederkommen. Ich blieb die ganze folgende Nacht wach. Aber schon um etwa halb fünf in der Frühe verwandelte sich der schwarze Osthimmel in ein prächtiges orangerotes Meer, aus dem dann bald mit majestätischer Anmut der glühende Sonnenball emporstieg. Wie lange ich so etwas nicht mehr gesehen hatte!
    Und so ist es bis heute: Immer gegen halb fünf geht die Sonne auf. Sie wandert dann etwa fünfzehn Stunden über das Firmament, und gegen zweiundzwanzig Uhr inszeniert sie ihre Verabschiedung mit einem gewaltigen Farbspektakel und versinkt im Weltall.
    Jeden Abend und jeden Morgen sitze ich am Fenster und genieße das Schauspiel. Überhaupt halte ich mich meistens in der Nähe der Fenster auf und blicke hinaus. Selbst in der Nacht. Da fast keine Wolken mehr auftauchen, ist auch der Nachthimmel so klar, wie ich ihn nur von ganz früher aus Nordskandinavien, Australien oder Kanada kenne. Es gibt ja auch keinerlei Lichtquellen mehr, die ihn seiner Schönheit berauben könnten. Die Sterne funkeln und strahlen wie feinste Edelsteine, und es sieht aus, als hätte Gott (oder sonst wer) aus dem Vollen geschöpft und sie einfach so in die tiefe Schwärze des Alls geworfen. Dazu leuchtet kaltsilbern der zunehmende Mond.
    Ich schlafe nur noch wenig. Vielleicht drei, vier Stunden.
    Ansonsten schaue ich hinaus – und kann gar nicht genug kriegen vom Anblick der Welt.
     
    Körperlich bin ich wieder zu Kräften gekommen. Ich esse regelmäßig.
     
    Die Tage erscheinen mir wie Sommertage. Heute ist es fast achtundzwanzig Grad warm gewesen.
     
    Wenn ich tagsüber am Fenster sitze, den Himmel sehe und die wohlige Wärme auf meiner Haut spüre, befällt mich so oft eine abgründige Verwunderung. Was erlebe ich? Wo bin ich? Wer bin ich? Warum bin ich? Was ist mein Leben? Aber ich denke dann nicht weiter über diese Fragen nach. Warum sollte ich das auch tun? Zudem fühle ich mich nach wie vor sehr erschöpft. Und eigentlich kann ich die gewaltigen Veränderungen noch gar nicht glauben.
     
    Nichts ist gewiss – es ist alles immer wieder anders.

62. EINTRAG
    Seit meinem letzten Eintrag sind zehn Tage vergangen. Die Sonne scheint

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