Der Tag an dem ich erwachte
sehe ich ein, dass es viel besser gewesen wäre, abzuwarten, bis mein Scheißschwesterchen auf der Welt war, um sie dann unauffällig zu beseitigen, als die ganze Familie zu eliminieren. Was soll ich zu meiner Verteidigung sagen? Tja, ich neigte schon immer zu Übertreibungen, das habe ich vermutlich von ihm. Schon nach der Beerdigung wurde mir klar, dass ich einen schlimmen Fehler begangen hatte, doch es war zu spät. Es blieb mir nichts anderes übrig, als das Beste daraus zu machen. Den Rest kennst du ja. Wenngleich nicht ganz. Jetzt kommen wir zu dem wirklich spannenden Teil meiner Geschichte. Ich musste ihn einfach kennen lernen, also schrieb ich mich an der Universität, an der er unterrichtete, ein. Ich gab mir unheimlich viel Mühe, lernte Nächte lang, doch für ihn war es nie gut genug. Jetzt weiß ich auch, wieso. Er wollte mich disziplinieren, meinen Charakter bilden.“ Es fiel mir auf, mit welcher Bewunderung Ryan plötzlich von Greg sprach. Sie grenzte schon fast an Heiligenverehrung. Noch vor einigen Wochen bezeichnete er Greg nur als „verdammten Mistkerl“, und das war noch die schmeichelhafteste Bezeichnung. Man musste nicht Psychologie studiert haben, um zu erkennen, dass Ryan eine sehr kranke Psyche hatte, er war völlig verwirrt und innerlich zerrissen. Und höchst gefährlich…. Noch viel mehr als sein Vater es ja war. Ob es wohl an den Genen lag? Ob es auch an meinen Genen lag, immer und immer wieder Opfer eines Psychopathen zu werden? Die Absurdität dieser Frage ließ mich laut auflachen. „Was findest du so lustig, Holly?“, fragte Ryan überrascht und kam mir bedrohlich nah.
„Nichts, ich freue mich nur für dich“, erwiderte ich so ruhig, wie es mir unter diesen Umständen nur möglich war. Er ließ sich sofort von meiner Antwort besänftigen, anscheinend war er tatsächlich in einer guten Stimmung und wollte sich unbedingt alles von der Seele reden, was er Jahre lang mit niemandem teilen konnte. Ich fühlte mich fast geschmeichelt, dass er es ausgerechnet mir anvertraute. Fast glücklich. Stockholmsyndrom, dachte ich, so wie damals bei Greg. Doch in einer Sache hatte Ryan sich geirrt: Greg war um Dimensionen besser als er. Ryan beherrschte keine Hypnose, und er hatte nicht einmal einen Bruchteil von Gregs Größenwahn. Er war von Selbstzweifeln und Minderwertigkeitskomplexen regelrecht zerfressen und würde nie schaffen, was Greg bei mir damals geschafft hatte: Dass ich tatsächlich vergessen hatte, wer ich war und eine völlig neue Version meiner selbst als die Wahrheit angenommen hatte. Doch was machte es schon für einen Unterschied? Ich war ihm willenlos ausgeliefert. „Und dann wurde ich plötzlich zu einem seiner Lieblingsstudenten“, fuhr Ryan seinen Bericht fort, seine Augen leuchteten fiebrig vor Freude und Stolz. „Es gab eine Studentenverbindung, musst du wissen. Na ja, es gab viele, so wie an jeder Universität. Doch diese eine war besonders begehrt, weil er der Vater dieser Verbindung war, und nur die Besten der Besten wurden dort aufgenommen. Als ich meine Einladung bekam, dachte ich, ich würde träumen, ich konnte es gar nicht fassen. Aber es war real! Er wollte mich dabei haben!“ Er weinte gerührt, als er an dieses Ereignis zurückdachte. „Wir waren zu zehnt“, erzählte er mir, „lediglich zehn Studenten, und ich war der letzte, der aufgenommen wurde. „Nun sind wir vollständig!“, sagte mein Vater (seine Stimme überschlug sich vor Stolz), als meine Aufnahmezeremonie beendet war. „Willkommen im Club der Götter, Mister Boyle!“, sagte er feierlich. Das war der glücklichste Tag meines Lebens. Auch wenn er mich nie als seinen Sohn akzeptierte, so akzeptierte er mich als seinen geistigen Sohn, eine Ehre, die weitaus bedeutender war. Unsere Treffen fanden immer einmal pro Woche statt. Wir beschäftigten uns hauptsächlich mit der Rolle der Frau an der Seite des Mannes, der seit Adam den eigentlichen Mittelpunkt der Welt darstellte. Eva diente lediglich dazu, ihm eine gute Gefährtin zu sein. Doch im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hatten sich Evas Töchter immer mehr dem ursprünglichen Sinn ihres Daseins entfremdet. Aus Eitelkeit und Stolz hatten sie sich sogar gegen ihren Schöpfer gestellt. Das war die Wurzel allen Übels, alles Bösen, was auf der Welt geschah, predigte mein Vater, und je länger wir ihm zuhörten, desto mehr wurde uns klar, wie recht er hatte. Wir diskutierten tiefgründig über die historischen Ereignisse, über die
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