Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
Familie ausfallen. Meine Mutter war ja Hausfrau. Außerdem haben seine Freunde von der Stasi behauptet, nicht nur er, sondern auch meine Mutter wäre im Westen verhaftet worden, mein Bruder und ich würden im Kinderheim landen. Aber was sollte denn meine Mutter mit der Spionage zu tun haben? Sie war eine naive Frau, die sich nicht um politische Dinge kümmerte. Die Stasi-Männer hatten meinem Vater dagegen eine goldene Perspektive präsentiert: Uns würde es in der DDR an nichts fehlen, unseren Lebensstandard würden wir natürlich halten, seinen Kindern würden alle Möglichkeiten für die Zukunft offen stehen. Das muss ihn überzeugt haben.
Nicht aber meinen Bruder und mich! Wir hatten ja nichts getan. Was konnten wir dafür, dass unser Vater ein Spion war? Sippenhaft gab es doch nicht mehr! Wir wollten zurück, nach Hause, in unsere Straße, in unsere Wohnung, in unser Zimmer, zu unseren Freunden, nach Hannover – notfalls auch ohne unseren Vater. Mein Bruder schrie meinen Vater deswegen auch unentwegt an. Der wirkte hilflos, seine Selbstsicherheit, seine Autorität, der wir uns sonst so schwer widersetzen konnten, war plötzlich verschwunden. Er hatte die Fäden, die unser Leben bislang gesteuert hatten, nicht mehr in der Hand. Er hatte sie abgegeben wie unsere Reisepässe. Erreicht hat er eigentlich das genaue Gegenteil von dem, was er wollte: Die Familie zerbrach vor seinen Augen. Seine Söhne hatten keinen Respekt mehr vor ihm. Er hat uns nicht nur getäuscht, sondern auch völlig enttäuscht. Wir haben ihm nichts mehr geglaubt, ihm nicht mehr vertraut. Er war sehr überrascht, mit welcher Heftigkeit er das von uns zu spüren bekam.
Und unsere Mutter? Sie hatte vom wahren Grund der Fahrt in die DDR auf der Autobahn schon an der Raststätte Michendorf erfahren, konnte dann in der ersten Zeit aber nur dafür sorgen, dass wir Kinder nichts erfahren, um die Flucht nicht zu gefährden. Viel später erst hat sie mir mehr über diese ersten Stunden erzählt. Auch sie fühlte sich von ihrem Mann getäuscht und betrogen. Nur musste sie noch den Schein wahren! Die erste Nacht in diesem seltsamen Haus hat sie schlaflos verbracht, stundenlang mit meinem Vater diskutiert. Sie wollte mit uns Jungs zurückfahren, sofort am nächsten Morgen. Sie hätte ja nichts verbrochen, sie würde sich schon irgendwie durchschlagen. Besser allein mit uns als wieder in der DDR leben… Aber mein Vater hatte unsere Pässe ja schon abgegeben. Und ob die Stasi die wieder rausrücken würde? Meine Mutter hat ihm sogar mit Selbstmord gedroht.
Wir blieben also erst mal im Gästehaus der Stasi in Eichwalde, voller Ungewissheit, wie es weitergehen sollte; mein Vater zunächst noch voller Hoffnung, dass sich alles finden würde. Er versuchte, Zuversicht zu verbreiten: „Alles wird gut, uns wird es hier auch gut gehen.“ Aber er wurde uns, meinem Bruder und mir, total fremd. Er war plötzlich ein völlig anderer Mensch als davor. Weil diese Geschichte eine Facette an ihm offenbart hatte, die wir nicht kannten, die aber doch wesentlich für einen Menschen ist! Aus einem biederen Familienvater war über Nacht plötzlich ein Spion geworden, ein Verräter, ein Spitzel. Welcher war nun der echte – der Familienvater oder der Spion?
Ich war 16, voll in der Pubertät, interessierte mich für Mädchen, für Autos, für Musik, für Abba, Boney M, Supermax, Sweet, Slade und die Sparks. Mein Bruder war schon etwas weiter: Er hatte eine Freundin und ein Yamaha-Moped und hörte schwerere Musik - Pink Floyd, Genesis und Supertramp. Die DDR als politisches Gebilde spielte für uns Jungen keine Rolle. Die RAF und ihre Anschläge – das war ein Thema. Aber doch nicht die DDR mit ihrer komischen Stasi!
Unsere Achtung vor unserem Vater sank jedenfalls in den Keller. Weil er eben das Vertrauen nicht gehabt hat, uns noch in Hannover einzuweihen und uns selbst entscheiden zu lassen, wo wir leben wollten. Das haben wir ihm auch zu spüren gegeben, mehr oder weniger subtil. Seine Vorschläge, seine Pläne und Hoffnungen, wie unser Leben in der DDR aussehen könnte – wir haben sie alle von uns geschoben: „Was erzählst du uns denn da? Du hast doch keine Ahnung!“ Wir hatten auch ein Gespür dafür, dass er die Sache gar nicht mehr steuern konnte.
Zwei Tage nach unserer „Entführung“ hatte meine Mutter Geburtstag, ihr 49. Kaffee und Kuchen mit der Stasi; die hatte auch als einzige Geschenke – 6 Bleikristall-Weingläser und ein Minibuch „Dr. Sorge
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