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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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Staatssicherheit, sagte mein Vater. Er sagte nicht „Stasi“, er sagte wirklich „Ministerium für Staatssicherheit“. Keiner im Westen tat das! „Uns wird es auf keinen Fall schlechter gehen als im Westen, sie haben mir versprochen, uns alle Unterstützung zu geben, die wir für das Einleben hier brauchen. Wir werden fast so weiterleben wie bisher.“
    Wie soll das denn gehen? In der DDR wie im Westen leben? In diesem grauen Land? Wir kannten doch die DDR ein bisschen. Was passiert hier gerade mit uns? Und warum, verdammt noch mal, war Mutter nicht bei uns?
    Ich hatte erst einmal ein Gefühl völliger Leere in mir. Träume ich das Ganze, wache ich gleich auf? Ich stand neben mir und beobachtete mich. Alles war unwirklich. Und dann diese Aussage, „wenn Hannover sozialistisch wird“. Sollte das ein Trost sein oder eine Drohung? Ich habe es jedenfalls eher wie eine Drohung uns gegenüber empfunden: Die waren nicht unsere Freunde. Im Gegenteil. Vielleicht die Freunde meines Vaters. Sie haben es nicht mal hingekriegt, das psychologisch so aufzubauen, dass sie uns Mut machten. Im Gegenteil. Schon in dem Moment war die Sache verloren für die. Aber das haben sie nicht begriffen.
    Also, wenn die die Wahrheit sagen, heißt das, dass alles, was ich bisher gelebt habe, nicht mehr da war! Was soll denn jetzt hier passieren? In der DDR leben? In dieser tristen dunklen grauen DDR leben? Wann wache ich endlich auf aus diesem bösartigen Albtraum? Das geht doch alles nicht. Muss ich das hier ernstnehmen? Unmöglich!
    Mein Leben war in diesem Moment zu Ende, das Gefühl hatte ich. Ich hörte meinen Vater und die Männer zwar noch auf uns einreden, aber ich verstand nichts mehr. Als ob der Ton im Film abgestellt würde und sich die Münder lautlos bewegten. Ich hatte in diesen Momenten das Gefühl, ich wäre gar nicht mehr körperlich da, würde irgendwie neben mir schweben. Ich bekam gerade noch mit, dass Michael, mein Bruder, anders reagierte, viel impulsiver. Er sprang auf mit „Leckt mich alle am Arsch!“ und rannte raus. Im Weglaufen rief er noch, dass er sich umbringen wolle, vor die S-Bahn werfen oder mit seinem Schal aufhängen. Unsere Mutter, die inzwischen dazu gekommen war, lief hinter ihm her. Ich war erst mal völlig erstarrt, konnte mich gar nicht rühren. Etwas war abgeschnitten. Mein Leben. Ich war nicht tot, aber auch nicht lebendig.
    Warum hat uns unser Vater nicht früher aufgeklärt, warum hat er uns mit Hilfe einer Lüge in die DDR gelockt? Konnte er sich nicht denken, was das für uns bedeuten würde? Kannte er uns so schlecht? Er hätte uns den wahren Grund unseres überstürzten Aufbruches noch in Hannover erzählen müssen. Mein Bruder war schließlich schon volljährig und ich selbst mit 16½ Jahren auch kein Kind mehr. Wir hätten dann beratschlagen können: Was machen wir? Wenn überhaupt, wäre er mit Sicherheit alleine gefahren. Und was ist mit Mutter? Hat sie davon gewusst? Seit wann? Schon immer? Hat sie das Spiel mitgespielt? War sie auch Spionin? Sie sind doch damals in den 50ern zusammen aus der DDR in den Westen geflüchtet! Oder war sie so ahnungslos wie Michael und ich? Nein, dann wäre sie jetzt nicht so gefasst.
    Je länger diese Geschichte her ist, umso kritischer sehe ich die Rolle meines Vaters. Er hat uns verraten.
    Ich weiß nicht mehr, wie ich aus dem Wohnzimmer wieder rausgekommen bin, wie dieser Tag weiter verlief, ob wir etwas gegessen haben. Ich weiß nur noch, dass mein Vater uns sagte, dass dieses Haus für die nächste Zeit unser Quartier werden sollte, bis wir etwas anderes gefunden hätten. Wir befanden uns in Eichwalde am süd-östlichen Rand Berlins.
    In den folgenden Tagen und Nächten versuchten meine Eltern erst einmal, uns alle am Leben zu erhalten. Meine Mutter nahm uns oft in den Arm, tröstete, versuchte – gegen ihre eigene Verzweiflung und ihr eigenes Misstrauen – Hoffnung und Zuversicht zu verbreiten: Dass es schon nicht so schlimm kommen würde, dass ja noch nicht alles verloren sei… Zur Sicherheit schliefen wir Jungs in den ersten Tagen bei unseren Eltern – mein Bruder bei unserem Vater, ich bei unserer Mutter. Denn gerade bei meinem Bruder konnte man nie wissen, was er anstellte, wenn er in Rage war.
    Als Erklärung für die Vorgehensweise meines Vaters kann ich heute nur vermuten, dass er damit die Familie zusammenhalten wollte. Im Westen drohte ihm die Verhaftung wegen Spionage. Er würde seinen Job verlieren und als einziger Ernährer der

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