Der Tag Delphi
auf ihre Schultern herabfielen und die sie sich manchmal anmutig aus dem Gesicht wischte. Eine der Aufnahmen in dem Bildbericht zeigte diese Geste. Sie benötigte wenig Make-up. Sie trug gerade genug Lidschatten auf, damit ihre großen braunen Augen nicht zu sehr auffielen.
Gathers hatte sie vor sechs Monaten im Büro von Senatorin Jordan unter dem Vorwand angerufen, er brauche Informationen über die Bewilligung von Mitteln. Er eröffnete sich ihr unbeholfen, noch während sie sich in dem Restaurant die Hände schüttelten. Obwohl diese erste Begegnung fast als Katastrophe geendet hätte und sie seine ständigen Annäherungsversuche unentwegt zurückwies, waren Kristen und Paul Freunde geworden, die ab und an zusammen essen gingen oder einen Drink nahmen. In jedem Fall war er der einzige FBI-Agent, den sie gut genug kannte, um direkt mit ihm Kontakt aufnehmen zu können. Gathers war als Spezialagent in der Terrorismusabwehr tätig. Er war oft auf Reisen, doch zum Glück hatte er sich an diesem Freitag morgen in seinem Büro befunden. Gathers wirkte stämmiger als bei ihrem letzten Treffen. Er war ein Mann, der dazu verdammt war, ständig auf sein Gewicht zu achten. Er trug sein krauses, schwarzes Haar kurz geschnitten.
»Du hast das Band dabei?« fragte Gathers und löste seine Hand von ihrer Schulter.
Kristen tippte gegen ihre abgenutzte Aktentasche aus weichem Leder.
Paul Gathers führte sie in sein Büro. »Keine Anrufe«, wies er seine Sekretärin an, bevor sie die Tür hinter ihm schloß.
»Mein Bruder ist der einzige, der von meiner Familie übrig ist, Paul. Es gibt niemanden außer ihm. Wenn ihm etwas passiert ist …«
»Ein Schritt nach dem anderen, Kris. Setz dich.«
Kristen legte ihre Aktentasche auf einen Stuhl vor Pauls Schreibtisch. Sie zog das Band heraus und hielt es kurz in der Hand, bevor sie es dem Agenten überreichte.
Kristen hatte die Nachricht vor neunzig Minuten zum erstenmal abgehört, nachdem sie vom Büro aus gegen zehn Uhr vormittags zu Hause angerufen hatte, um sich die auf Band gesprochenen Nachrichten anzuhören. Zuvor hatte sie schon drei hektische Stunden damit verbracht, Notizen zu überprüfen und Anrufe zu erwidern. Dieser Freitag hatte als ein besonders geschäftiger Tag begonnen. Die einzigen wirklich dringenden Anrufe hätten von der Senatorin sein können, und da sie über Nacht bei ihr geblieben war, hätte sie den Anrufbeantworter eigentlich den ganzen Tag nicht abhören müssen.
Die einzige Nachricht auf der Maschine war von ihrem Bruder gewesen.
Der Telefonhörer fiel ihr fast aus der Hand, als sie von ihrem Büro aus die Nachricht abhörte. Sie fühlte sich schwach, einen kurzen Augenblick war ihr kalt, dann ganz heiß. Sie stand zitternd auf, hielt sich am Rand ihres Schreibtisches fest. Benommen ging sie in den Vorraum und hielt am Tisch der Empfangsdame an. Die Senatorin war in einer wichtigen Besprechung und durfte nicht gestört werden. Sie hatten vereinbart, sich unmittelbar danach zu treffen. Das mußte jetzt warten.
»Sally.« Die Empfangsdame drehte sich überrascht zu ihr um. Kristen hatte gar nicht bemerkt, wie laut sie gesprochen hatte.
»Könnten Sie der Senatorin bitte sagen, daß ich kurz weg muß. Es ist eine persönliche Angelegenheit. Eine Art Notfall.«
»Natürlich«, sagte Sally mit ehrlicher Anteilnahme. »Es ist doch hoffentlich niemandem etwas passiert?«
»Nein. Ich hoffe jedenfalls nicht. Es ist nur, daß …«
Der letzte Satz blieb unvollendet, da Kristen bereits die Tür erreicht hatte.
In ihrer Wohnung, die nur zwei Blocks vom Senatsgebäude entfernt lag, hörte sie die Nachricht ihres Bruders drei weitere Male ab, bevor sie Paul Gathers anrief. Paul würde ihr helfen. Paul war ein Freund. Wie sie ihn jetzt vor sich sah, während er sich anschickte, die Kassette in das Abspielgerät auf seinem Tisch zu stecken, kehrte etwas von ihrer inneren Ruhe zurück. Vielleicht war wirklich alles in Ordnung. Vielleicht reagierte sie nur zu nervös.
Gathers ließ die Abdeckung des Kassettengeräts aufspringen und steckte das Band hinein. Dann drückte er WIEDERGABE. Kristen setzte sich nicht, ebensowenig wie Gathers. Einen Augenblick später erfüllte die Stimme ihres Bruders den Raum.
»Kristen, bist du da? Kristen, hier ist David. Wenn du da bist, nimm bitte ab. Nimm ab!«
Seine Stimme war fast schon in ein Schreien übergegangen. Es folgte ein Geräusch, das ihr wie ein tiefes Atemholen vorkam, während er seine Fassung
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