Der Tag der Ameisen
den falschen Knopf. Anstatt den Strom abzustellen, verstärkte er die Helligkeit des Bildschirms.
Jonathan genügte ein einziger Blick, um alles zu erraten. Er hatte nur mehr Zeit, den letzten Satz zu lesen, hatte aber alles begriffen.
Sein Sohn gab sich als Gott der Ameisen aus, um diese zu zwingen, sie mit Nahrung zu versorgen.
Jonathan riß die Augen weit auf. Auf einen Schlag begriff er die weitreichenden Konsequenzen dieser List.
Nicolas hat die Ameisen religiös gemacht!
Angesichts dieser verblüffenden Erkenntnis war er einen Moment sprachlos.
Nicolas wußte nicht, was er tun sollte. Er stürzte zu seinem Vater hin.
»Das mußt du verstehen, Papa. Ich habe es getan, um uns zu retten, damit sie uns ernähren …« Jonathan Wells war fassungslos.
Nicolas stotterte: »Ich wollte den Ameisen beibringen, daß sie uns verehren. Schließlich sind wir ihretwegen hier unten.
Also ist es auch an ihnen, uns da wieder rauszuholen. Und sie haben uns ja auch keine Nahrung mehr gebracht, sie haben uns aufgegeben, damit wir verhungern. Einer hat doch darauf reagieren und was tun müssen. Also hab ich nachgedacht und die Lösung gefunden. Wir sind tausendmal intelligenter als die Ameisen, tausendmal stärker, tausendmal größer. Jeder x-beliebige Mensch ist für diese Tierchen ein Riese. Wenn sie uns für Götter hielten, würden sie uns nicht fallenlassen. Also habe ich gottgläubige Ameisen geschaffen, und mir ist es zu verdanken, wenn ihr noch ein bißchen Honigtau und Pilze zu essen habt. Ich, der zwölfjährige Nicolas, habe euch gerettet, euch Erwachsene, die ihr euch für Insekten haltet!«
Jonathan Wells zögerte nicht. Zwei schallende Ohrfeigen hinterließen auf den Backen seines Sohnes fünf rote Finger.
Das Geräusch weckte die anderen auf. Im Nu erfaßten alle das Problem.
»Nicolas …!« rief die Großmutter entsetzt aus.
Nicolas brach in Schluchzen aus. Die Großen kapieren nie was. Unter dem eisigen Blick seiner Eltern verwandelte der rachsüchtige Gott sich in einen heulenden Jungen.
Jonathan Wells hob wieder die Hand, um ihn zu bestrafen.
Seine Frau stoppte ihn.
»Nein. Bring die Gewalt nicht wieder an diesen Ort zurück.
Es ist uns schwer genug gefallen, sie von hier zu vertreiben!«
Doch Jonathan war außer sich.
»Er hat seine Vorrechte als Mensch mißbraucht. Er hat die Vorstellung von Gott in die Ameisenwelt eingeführt! Wer kann die Folgen einer solchen Tat vorhersehen? Religionskriege, die Inquisition, Fanatismus, Intoleranz … Und all das wegen meines Sohns.« Lucie predigte Geduld: »Es ist der Fehler von uns allen.«
»Wie soll man einen solchen Schnitzer wieder ausbügeln?«
seufzte Jonathan. »Ich sehe keine Lösung.«
Sie packte ihren Ehemann an den Schultern.
»Doch. Mir kommt bereits eine in den Sinn. Sprich mit deinem Sohn.«
152. GRÜNDUNG DER FREIEN GEMEINSCHAFT DER CORNIGERA-AKAZIE (FGC)
Morgengrauen. Auch heute betrachtet Nr. 24 wieder den diesigen Horizont.
Sonne, geh auf!
Und die Sonne gehorchte ihr.
Ganz allein am Ende eines Zweigs betrachtet Nr. 24 die Schönheit der Welt und denkt nach. Falls es Götter gibt, haben sie es nicht nötig, als Finger aufzutreten. Sie haben es nicht nötig, sich in riesige Tiermonster zu verwandeln. Und doch sind sie da. In diesen süßen Leckereien, die der Baum hervor-gebracht hat, um die Ameisen anzulocken. In den strahlenden Rüstungen der Käfer. Im Kühlsystem des Termitenhügels. In der Schönheit des Flusses und im Duft der Blumen, in der Verkommenheit der Wanzen und im Chrom der Schmetterlings-flügel, im köstlichen Läusehonigtau und im tödlichen Bienengift, in den gezackten Bergen und dem friedlichen Fluß, im todbringenden Regen und in der kraftspendenden Sonne!
Wie Nr. 23 möchte sie gern glauben, daß eine höhere Kraft die Welt regiert. Doch diese Kraft, das hat sie gerade begriffen, ist überall und in allem. Sie wird nicht nur durch die Finger verkörpert!
Sie selbst ist Gott, Nr. 23 ist Gott und die Finger sind Götter.
Weiter braucht man gar nicht zu suchen. Alles ist da, in Reichweite der Antennen, der Mandibeln. Sie erinnert sich an die Ameisensage, die ihr Nr. 103 erzählt hat. Jetzt versteht sie sie voll und ganz. Was ist der beste Augenblick? Jetzt! Was ist das Beste, was man tun kann? Sich mit dem beschäftigen, was man vor sich hat. Was ist das Geheimnis des Glücks? Auf Erden zu wandeln!
Sie richtet sich auf.
Sonne, steige noch höher empor und werde weiß.
Und wieder gehorcht die
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