Der Tag der Ameisen
Sonne folgsam.
Nr. 24 setzt sich in Bewegung und läßt ihren Kokon los. Sie ist nicht mehr auf der Suche. Sie hat alles begriffen. Den Kreuzzug fortzusetzen ist unnötig. Sie hat sich immer verirrt, weil sie nie ihren Platz gefunden hat. Jetzt weiß sie, daß ihr Platz hier ist. Sie braucht nur noch diese Insel entsprechend herzurichten, und ihr einziger Ehrgeiz besteht darin, jede Sekunde wie ein wundersames Lebensgeschenk zu nutzen.
Sie hat keine Angst mehr vor der Einsamkeit. Und sie hat keine Angst mehr vor den anderen. Wenn man am rechten Platz ist, hat man vor nichts Angst.
Rasch begibt sich Nr. 24 auf die Suche nach Nr. 103.
Sie findet sie bei den Vergißmeinnichtbooten, die sie mit ihrem Speichel flickt.
Antennenkontakt.
Sie gibt ihr den Kokon zurück.
Ich will diesen Schatz nicht länger tragen. Du mußt ihn allein tragen. Ich bleibe hier. Ich brauche nichts mehr zu beweisen, ich habe genug vom Kämpfen, ich habe genug vom Verirren.
Auf diese Rede hin richten sich vor Überraschung sämtliche Antennen der anwesenden Ameisen auf. Verdutzt nimmt Nr. 103 den Schmetterlingskokon entgegen.
Die beiden Insekten berühren einander leicht mit den Antennenspitzen.
Ich bleibe hier, wiederholt Nr. 24. Hier baue ich eine Stadt.
Aber du hast schon Bel-o-kan, deine Heimatstadt! Gerne gibt die junge Ameise zu, daß Bel-o-kan eine große und mächtige Föderation sei. Nur würden die Rivalitäten zwischen Ameisenstädten sie nicht mehr interessieren. Sie habe genug von diesen Kasten, die allen von Geburt an eine Rolle aufzwingen. Sie wolle weit weg von ihnen und weit weg von den Fingern leben. Mit allem wieder bei Null anfangen.
Aber dann bist du allein!
Wenn auch andere auf der Insel bleiben wollen, sind sie willkommen.
Eine Rote kommt näher. Auch sie sei des Kreuzzugs müde.
Sie sei weder für die Finger noch gegen sie. Sie seien ihr gleichgültig. Der Meinung sind auch sechs weitere Ameisen, auch sie weigern sich, die Insel zu verlassen.
Zwei Bienen und zwei Termiten beschließen ihrerseits, sich von dem Kreuzzug loszusagen.
Die Frösche werden euch alle auffressen, behauptet Nr. 9.
So was glauben sie nicht. Mit ihren Dornen wird die Flötenakazie sie gegen Räuber schützen.
Ein Käfer und eine Fliege laufen in das Lager von Nr. 24
über. Dann weitere zehn Ameisen, fünf Bienen und fünf Termiten.
Wie hätte man sie halten sollen?
Eine Rote gibt zu erkennen, daß sie gottgläubig sei, aber dennoch hier zu leben wünsche. Nr. 24 antwortet, daß ihre Gemeinschaft hinsichtlich der Finger weder für noch gegen die Gottgläubigen sei. Auf der Insel dürfe jeder denken, was er wolle.
Denken …. erbebt Nr. 103.
Zum erstenmal bilden Tiere eine utopische Gemeinschaft. Sie geben ihr den Pheromonnamen »Stadt Cornigera« und fangen an, sich in dem Baum einzurichten. Die Bienen, die noch ein bißchen Brutmilch voller Hormone haben, wandeln die Geschlechtslosen, die es wünschen, in Fortpflanzungsfähige um. So entstehen Königinnen, und die Gemeinde kann Bestand haben.
Nr. 103 bleibt einen Moment regungslos, überrascht von dieser Entscheidung. Dann beleben sich ihre Antennen, und sie bittet alle, die den Kreuzzug fortführen wollen, Aufstellung zu nehmen.
153. ENZYKLOPÄDIE
VERSTÄNDIGUNG ZWISCHEN DEN BÄUMEN: BESTIMMTE
AKAZIENARTEN IN AFRIKA WEISEN STAUNENSWERTE
EIGENSCHAFTEN AUF. WENN EINE GAZELLE ODER EINE ZIEGE
SICH DARANMACHT, SIE ABZUWEIDEN, VERÄNDERN SIE DIE
CHEMISCHEN BESTANDTEILE IHRES SAFTES DERGESTALT, DAß ER GIFTIG WIRD. SOBALD DAS TIER MERKT, DAß DER BAUM
NICHT MEHR DENSELBEN GESCHMACK HAT, BEIßT ES IN EINEN
ANDEREN. DIE AKAZIEN SIND JEDOCH IN DER LAGE, EINEN DUFT
ZU VERSTRÖMEN, DER VON DEN BENACHBARTEN AKAZIEN
AUFGEFANGEN WIRD UND SIE SOFORT VOR DER ANWESENHEIT
DES RÄUBERS WARNT. IN WENIGEN MINUTEN WERDEN
SÄMTLICHE BÄUME UNGENIEßBAR. DARAUFHIN ENTFERNEN
SICH DIE PFLANZENFRESSER UND SUCHEN SICH EINE AKAZIE, DIE
ZU WEIT WEG IST, UM DEN WARNRUF AUFGEFANGEN ZU HABEN.
NUN IST ES ABER SO, DAß DURCH DIE HERDENHALTUNG ZIEGEN
UND AKAZIEN AUF EINEM ENG UMSCHLOSSENEN RAUM
ZUSAMMENLEBEN. DIE FOLGE: SOBALD DIE ERSTE BETROFFENE
AKAZIE ALLE ANDEREN GEWARNT HAT, BLEIBT DEN TIEREN
NICHTS ANDERES MEHR ÜBRIG, ALS VON DEN GIFTIGEN BÄUMEN
ZU FRESSEN. AUF DIESE WEISE SIND ZAHLREICHE HERDEN
VERGIFTET GESTORBEN. DER GRUND DAFÜR IST DEN MENSCHEN
ERST NACH LANGER ZEIT AUFGEGANGEN.
Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2
154. NOCH ZWEI
Weitere Kostenlose Bücher