Der Tag der Ameisen
Schießscharten in der Akazie. Es regnet eine Salve Säure, die ihr behäbiges Ziel problemlos trifft. Dem Salamander mit seiner dicken, dunklen Haut kann das nichts anhaben. Die Ameisen stürzen sich auf ihn und versuchen, seine Haut mit ihren Kieferzangen zu durchbohren, doch sie verenden sofort an deren hochgiftigen Ausscheidungen. So besiegt ein Langsamer mitunter die Schnellen.
Im Gefühl seiner Unverwundbarkeit streckt der Salamander bedächtig ein Bein nach einem Ast voller Artilleristinnen aus.
Und … piekst sich an einem Dorn der Flötenakazie. Er blutet, betrachtet entsetzt sein Bein und huscht rasch zurück ins Schilf.
Das Unbewegliche hat über den Langsamen obsiegt.
Alle Bewohnerinnen des Baums gratulieren diesem, als würde es sich um ein Tier handeln, das ihnen gegen einen Räuber zu Hilfe geeilt ist. Sie reinigen ihn von den letzten Parasiten, die sich noch in seinen Zweigen aufhalten, und spritzen ihm ein paar Gramm Kompost zwischen seine Wurzeln.
Mit der ansteigenden Morgenhitze geht jede ihren Aufgaben nach. Die Termiten versuchen ein vom Fluß angeschwemmtes Stück Holz zu durchbohren. Jede Art tummelt sich auf ihrem Lieblingsgebiet. Die Akazieninsel liefert ihnen alles, was sie benötigen, und schirmt sie vor Räubern ab.
Der Fluß ist reich an Nahrung: Wasserklee, aus dem die Ameisen den Saft pressen, bis sie ein zuckerhaltiges Bier bekommen, Sumpfvergißmeinnicht, Seifenkraut, das die Wunden desinfiziert, Wasserhanf, in dessen Nadeln sich Fische verfangen, deren Fleisch den roten Ameisen einen neuartigen Leckerbissen beschert.
Unter den Schwärmen von Mücken und Libellen wollen alle das Inselleben fern der immer gleichen Aufgaben der Großstädte genießen.
Plötzlich ist heftiger Lärm zu vernehmen. Zwei Hirschkäfermännchen sind in einen Kampf verstrickt.
Die beiden großen, mit Zangen und spitzen Hörnern bewehrten Käfer umkreisen einander, dann packen sie mit ihren imposanten Scheren zu, stemmen sich gegenseitig hoch und versuchen, einander auf den Rücken zu werfen. Die Chitinplatten prallen aufeinander, die Hörner knallen zusammen. Ein Ringkampf inmitten von viel Staub und Lärm.
Sie fliegen auf und prügeln sich am Himmel weiter.
Alle Zuschauerinnen sind entzückt, diesem herrlichen Zweikampf beiwohnen zu dürfen. Und schon klappern im Publikum die Kiefer, denn auch sie haben Lust, sich zu kloppen und zu prügeln.
Das Blatt wendet sich zugunsten des großen Käfers; der andere stürzt rücklings ab und rudert dabei mit den Beinen in der Luft. Der siegreiche Kämpfer reckt zum Zeichen des Triumphs seine langen Zangen gen Himmel.
Nr. 103 sieht in diesem Zwischenfall ein Zeichen. Sie weiß, daß die friedvollen Stunden auf der Akazieninsel zur Neige gehen. Voller Ungeduld wollen die Tiere den Kreuzzug fortsetzen. Wenn sie hierbleiben, würden die Geschlechterkämpfe und Rivalitäten, die Streitereien und Zänkereien zwischen den Arten wieder aufleben. Das Bündnis würde Risse bekommen. Die Ameisen würden die Termiten bekriegen, die Bienen die Fliegen, die eine Käferart die andere.
Diese zerstörerischen Energien müssen auf ein gemeinsames Ziel hin kanalisiert werden. Der Kreuzzug muß fortgesetzt werden. Sie teilt ihre Gedanken den anderen mit. Man faßt den Entschluß, morgen früh mit der ersten Wärme wieder aufzubrechen.
Sie haben es sich zur Gewohnheit gemacht, allabendlich in ihren naturgeschaffenen Behausungen noch ein wenig über dieses und jenes zu plaudern.
Heute schlägt eine Ameise vor, jede von ihnen solle zu Ehren des Kreuzzugs ihre Geburtsnummer durch einen Namen ersetzen, wie es die Königinnen tun.
Einen Namen?
Warum nicht …
Ja, geben wir einander Namen.
Wie wolltet ihr mich denn nennen? fragt Nr. 103.
Es wird vorgeschlagen, sie »Die Führende« zu nennen oder
»Die Vogelbezwingerin« oder »Die Angstvolle«. Doch sie beschließt, daß sie am deutlichsten durch ihren Zweifel und ihre Neugier charakterisiert sei. Ihre Unwissenheit ist ihr größter Stolz. Sie möchte »Die Zweifelnde« genannt werden.
Ich möchte »Die Wissende« genannt werden. Denn ich weiß, daß die Finger unsere Götter sind, verkündet Nr. 23.
Ich möchte »Die, die eine Ameise ist« genannt werden, meint Nr. 9, denn ich kämpfe für die Ameisen und gegen alle ihre Feinde.
Mir sollt ihr den Namen »Die …«
Früher war das Wort »ich« tabu. Die Tatsache, daß sie sich einen Namen geben, zeugt von ihrem Bedürfnis, nicht mehr als Teil eines Ganzen, sondern als
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