Der Tag der roten Nase
jeden Fall fühlte ich mich inzwischen ganz außergewöhnlich: Da waren Angst und Scham und Sorge, alles wohlvertraute Empfindungen aus der letzten Zeit, aber am stärksten arbeitete die Sorge in mir, die Sorge um Irja und all die anderen guten Menschen und die besorgte Frage, ob ich aus purer Dummheit tatsächlich eine ganze Beerdigung verdorben hatte, einfach so, ich konnte es kaum glauben, war aber trotzdem überzeugt, dass genau das geschehen war. Und im selben Komplex existierte dann ja auch noch meine seltsame Beziehungslosigkeit zu all dem, was gerade passierte, zu der Tatsache, dass ich irgendwie schlingernd auf der A4 gelandet war und ein Polizeiauto an der Stoßstange hängen hatte.
Irgendwie schien mir, alles würde in zehn Metern Abstand vor sich gehen, etwa so, als wenn man im Bus sitzt und beobachtet, wie draußen ein Artgenosse gejagt wird.
Und als dann die Abfahrt zum Ring 3 samt benachbartem Ikea vorbeihuschten und ich im Seitenspiegel irgendwo weiter hinten neue blaue Blinklichter auftauchen sah, da entspann sich etwas in Geist und sterblicher Hülle, nicht direkt Stolz, aber doch eine Art Widerspenstigkeit, ein bisschen nach dem Motto: Muss ich mich denn für alles genieren und alles bereuen? Das dann wohl doch nicht, um Himmels willen; zwar hatte ich durchaus einen ganz schönen Haufen an Fehleinschätzungen und sonstigem Schabernack zusammengetragen, aber ich hatte niemandem etwas zuleide tun wollen und wollte es noch immer nicht, damit brauchte mir keiner zu kommen, endlich einmal hatte ich an meinem Leben etwas verändert, wie es immer und überall aufdringlich empfohlen wird, und nebenbei noch eine Freundin gefunden, die es immer noch gab, irgendwo, trotz allem, dessen war ich mir sicher. Und als das zweite Polizeiauto sich dann hinten anhängte und sogar ein drittes sich zu nähern schien, da schoss mir ein ganz neues, wundersames, sozusagen sanftmütig stures Ehrgefühl in den Leib: Ich werde jetzt meine ureigenen fünfzig Lenze nach Hause fahren, und dann sehen wir weiter. Wäre doch arg merkwürdig, wenn der Mensch bei Schneegestöber nicht so langsam, wie er konnte und wollte, von einer Beerdigung nach Hause fahren dürfte.
Ich hielt also tatsächlich nicht an, obwohl das dritte Polizeiauto nun neben mir auftauchte, auf der linken Spur. Wahrscheinlich ist es nun einmal so, dass man in einer heiklen Lage versucht, alles ins Positive zu wenden, jedenfalls überkam mich für kurze Zeit wieder ein vernunftwidriges Triumphgefühl, wenn ich daran dachte, was für eine Schlange ich gerade hinter mir herzog. Alles nur meinetwegen!
Für einen Moment waren mir meine Ausrutscher ins Selbstgefällige ein bisschen peinlich, aber dann lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf einen Feldhasen, der allerdings in sicherem Abstand über die Straße hoppelte, und anschließend auf das Handy, dessen Klingeln ich lediglich anhand des Lichtscheins in der Öffnung meiner auf dem Beifahrersitz liegenden Handtasche registrierte.
Ich meldete mich, ohne auf das Display zu blicken, ich weiß nicht warum, es war verrückt, wahnsinnig, noch mehr Gefahrensituationen heraufzubeschwören und weitere Anklagen wegen neuer Verbrechen und Vergehen, aber irgendwie hatte ich das Ding plötzlich am Ohr, und schon rauschte das erste Hallo durch die Leitung.
»Furchtbarer Krach«, sagte mein Sohn. »Wo bist du?«
Ich brauchte einen Moment, bis ich analysiert hatte, dass tatsächlich mein Sohn dran war; seine Stimme kam so sehr von anderswo, ich musste erst mal nach allen Seiten schauen, im Auto, auf die blinkenden Lichter in den Spiegeln, auf den Wald, der rechts vorbeihuschte, und auf die Felseinschnitte, die links aufragten, und die Wohntürme von Jakomäki obendrauf; dann erst kam sie heraus, die seltsam stumpfe Antwort angesichts dessen, was eigentlich alles zu sagen wäre: »Im Auto.«
Diesmal hörte ich kein Rauschen oder sonstige Undeutlichkeiten, weil das Auto so einen Lärm machte, aber still war er, mein Sohn, auf seine ärgerliche Art, die mich in diesem Moment natürlich ganz besonders auf die Palme brachte, er begriff nicht, dass ich gerade mitten in einer heiklen Lage steckte, woher hätte er es auch wissen sollen, aber trotzdem. Rechts kam jetzt der Flugplatz Malmi und die Stadt nähertesich, auch hier hatte es geschneit und schneite es noch immer leise vor sich hin, und wieder machte sie mir Angst, die Stadt, wie würde ich dort mit diesen Reifen klarkommen, und erst da wurde mir bewusst, dass ich eine ganze
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