Der Tag der zuckersueßen Rache
viel Raum, sich mit derartigen Problemen und Fragen auseinanderzusetzen. Gespräche mit den eigenen Eltern sind dazu nicht geeignet; sie kennen einen schon von Geburt an und können sich nicht wirklich vorstellen, wie ihre Kinder als Erwachsene einmal sein werden. Es bleibt also nur das Gespräch mit sich selbst oder mit Freunden. Und am besten kann man in Ruhe mit sich selbst oder den Freunden sprechen, indem man sich Tagebüchern, Notizbüchern und Briefen anvertraut. Als Erwachsener verfügt man über jede Menge privater Orte, um solche Dinge zu verstauen: Häuser und Dachböden, Aktenschränke und Schreibtischschubladen. In unserem Alter verbringt man die meiste Zeit in der Schule. Und wo kann man seine Tagebücher und Notizhefte und Briefe verstauen, wenn man in die Schule geht? Nirgends. Außer in seinem Schließfach. Da haben wir es! Wenn nun Sie, liebe Lehrer, anfangen, unsere Schließfächer zu durchsuchen und unsere Unterlagen zu lesen, wissen Sie, was Sie dann machen? Dann stehlen Sie uns die kostbaren Seiten, die darüber entscheiden, was später einmal aus uns wird, und reißen Sie in Fetzen. In einem metabolischen Sinne jedenfalls. Entschuldigung. In einem metaphorischen Sinne, was so viel wie symbolisch bedeutet. Und das kann weit schlimmere Folgen haben, als Sie vielleicht glauben mögen. Zusammenfassend möchte ich noch betonen, dass es falsch ist, Ärger für etwas zu bekommen, das man nicht getan hat. Und noch falscher ist es, wenn Sie deshalb sogar unsere privaten Aufzeichnungen lesen dürfen.
Damit endet meine Erklärung. Ich habe hier nur noch einige Unterlagen, die ich den Richtern überreichen möchte und die aus einem Ordner stammen, der Cassie Aganovics Mutter gehört.
Angefügt unter dem Buchstaben »A« sind Kopien von Artikel 16 und 40 der UN-Kinderrechtskonvention, die besagen, dass Kinder ein Recht auf Privatsphäre haben.
Angefügt unter dem Buchstaben »B« sind Kopien von Fällen weltweit, in denen der Schutz der Privatsphäre Jugendlicher bestätigt wird, auch in Bezug auf ihre Schließfächer.
Angefügt unter dem Buchstaben »C« sind Kopien einer Nachricht von Mr Botherit, unserem Englischlehrer, die zu Beginn des Herbsttrimesters am Schwarzen Brett hing und in der eigens darauf hingewiesen wurde, dass unsere Briefe an die Brookfield High »vollkommen vertraulich« behandelt würden.
[Emily holt tief Luft, überreicht den Richtern einen Stapel Papiere und
setzt sich wieder neben mich. Sie liest über meine Schulter mit, damit
sie sehen kann, wie ihre Rede aussieht.]
[Allgemeine Stille. Ein ungläubiges Raunen zieht durch den Raum.
»War das wirklich Emily Thompson!« scheint dieses Raunen zu sagen.]
Emily: Bindy fängt schon wieder mit den Adjektiven an. Bindy: Das sind keine Adjektive. Emily: DU KANNST NICHT GLEICHZEITIG SPRECHEN UND TIPPEN,
BINDY . Bindy: Wetten doch? [Der obige Austausch zwischen Emily und Bindy wird übertönt, als die
gesamte Aula anfängt zu klatschen und mit den Füßen zu stampfen.]
Emily [kehrt ans Mikrofon zurück]: Und außerdem gibt es in unse
ren privaten Papieren keinerlei Hinweise darauf, dass wir die
Brookfield High angegriffen haben. Sie enthalten vielleicht Hinweise auf andere unrechtmäßige Taten, aber . . . Mr Thompson: Einspruch! Richterin Koutchavalis: Aus welchem Grund? Mr Thompson: Sie schießt sich ja selbst ins Bein. [Emily setzt sich wieder.]
Richterin Koutchavalis: Sind die Plädoyers damit beendet? Emily: Ja. Mrs Lilydale: Nun, ich finde immer noch, dass ich das Recht habe... Mr Thompson: Sie waren schon an der Reihe. Richterin Koutchavalis [an Richter Anderson gewandt]: Dann sollten
wir wohl eine Entscheidung fällen, nehme ich an – wollen wir
uns kurz beraten?
[Geflüster zwischen den beiden Richtern, das vermutlich nicht getippt
werden soll, obwohl ich, wenn ich mich ein wenig hinüberlehne, fast hören kann...]
Richterin Koutchavalis: Meine Damen und Herren, wir sind zu einem Entschluss gekommen. Obwohl es recht wahrscheinlich ist,
dass diese Mädchen etwas mit den Angriffen auf die Brookfield
High zu tun haben, sollten wir einen korrekten Weg finden, um
die Sache zu klären. Die Lehrer werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit besprechen, wie dieser Weg aussehen könnte. Aber
in der Zwischenzeit sollte es niemandem gestattet sein, die privaten Unterlagen der Schülerinnen zu lesen. Mr Thompson: Als beratendes Mitglied dieser Kammer muss ich
sagen, dass Sie die richtige Entscheidung getroffen haben.
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