Der Tag ist hell, ich schreibe dir
nicht besonders, aber es war eigenartig, nichts von dir in den Händen zu halten, es hätte eine Schallplatte sein können, irgendetwas, das mich an dich erinnern würde. Ich weiß nicht einmal, ob du ein Testament gemacht hast – immerhin hattest du für den Fall deiner Entführung deiner Frau einen Brief hinterlegt; du musst also eine Vorstellung davon gehabt haben, überraschend zu verschwinden. Dir war nur wichtig, dass deiner Familie nichts geschieht und dass der Staat auf dein Leben keine Rücksicht nehmen sollte, um die Interessen und Ideale zu verfolgen, die dir wichtig waren. Hält jemand eine überraschende Wende im Leben nicht für möglich, ist ein Testament nicht nötig. Die Verwandtschaftsverhältnisse regeln die Hinterlassenschaft von selbst.
Ist dies vielleicht deine Hinterlassenschaft für mich: die Fragen von Fremden, die nicht enden? Die E-Mails, die mich immer noch erreichen? Ein Mann behauptete, Dinge über dich zu wissen, die mich interessieren dürften, schlimme Dinge. Einer war in deine Tochter verliebt und glaubte, von mir etwas über sie zu erfahren. Ein Dritter wollte das Attentat aufklären, ein Vierter schrieb seine Doktorarbeit über dich. Ich habe eine ganze Sammlung von Briefen wildfremder Rentner, die sich für dich begeistern, mir aber auch mitteilen, wie lesenswert ihr eigenes Leben sei. Bei einer Lesung schlägt ein Mitarbeiter deiner Bank ein Bein übers andre, sieht mich seltsam an und sagt, mit der Verachtung des Verschmähten in der Stimme: » Wissen Sie, mit Unsereinem hat er nicht so gern seine Zeit verbracht. Bei Geselligkeiten ist er lieber ein Bier trinken gegangen, draußen, mit seinen Leibwächtern.«
Ich habe damals überhaupt nicht an solche Zusammenhänge gedacht. Vielleicht hätte mich die Vorstellung insgeheim doch verletzt, dass ich keine Rolle gespielt hatte in deinen Gedanken an das, was ist, wenn du nicht mehr da bist. Getröstet hätte ich mich garantiert damit, mir zu sagen: Unsere Beziehung bestand außerhalb dessen, was sich in irgendeiner Form regeln lässt.
Deine Witwe war es, die an mich dachte.
Sie war es, die vier Jahre nach deinem Tod kam und mir etwas brachte, so wie sie mich auch zur Beerdigung eingeladen hatte. Ich hatte ihr seitdem jedes Jahr Weihnachtsgrüße geschickt, nichts weiter, wir teilten im Grunde ja auch nichts Eigenes. Ich erinnere mich an drei oder vier Telefonate, bei denen ich dich hatte sprechen wollen und sie an den Apparat gekommen war, im Hotel in Berlin oder bei euch zu Hause. Nein, wir hatten nichts Eigenständiges zu teilen – vielleicht nicht einmal den Menschen, der eine Verbindung zwischen uns beiden hergestellt hatte. Trotzdem hatte ich ihr jetzt die Geburtsanzeige unserer Tochter geschickt, und sie hatte sich umgehend und überraschend angemeldet, um, wie sie sagte, das Baby zu bewundern.
» Was wünschst du dir von Julius?«, fragte sie am Telefon.
Ich schwieg, noch immer erstaunt über ihren Wunsch, uns zu besuchen.
» Gibt es einen Gegenstand, irgendetwas, das du gern von ihm hättest, zur Erinnerung?«
Ich war so verwirrt von ihrem Angebot, dass es mir die Sprache verschlug.
» Vielleicht seine Tasche?« Ihre Stimme klang freundlich und offen.
Hatte sie mich früher gefragt? Unmittelbar nach deiner Beerdigung? Als ich zum ersten Mal euer Haus betrat? Ich konnte mich nicht erinnern. Das Bild deines Schreibtischs tauchte auf, an dem ich gestanden hatte, fassungslos, und auf dem der Umschlag meines letzten Briefs an dich lag, in den ich einige Fotos gesteckt hatte, von den Tagen der Maueröffnung, und auf den ich – ich musste schlucken, als es mir einfiel – einen Engel geklebt hatte, den ich aus einem Kalender ausgeschnitten hatte, einen pausbackigen rosa Engel von Andy Warhol.
» Seinen Füller«, entfuhr es mir, » wenn ich darf.«
Keine Woche später kam Pia in unsere Wohnung, lernte meinen Mann Thimo kennen und bewunderte Felicitas, unser kleines Mädchen.
» Babys muss man anhimmeln«, sagte sie. » Babys sind zum In-die-Knie-Gehen.«
Sie hatte einen tiefblauen Anzug aus Samt für Felicitas mitgebracht, mit einem weißen Kragen. Ich hatte Apfelkuchen gebacken und Tee gekocht. Wir saßen in der Küche, Felicitas lag in ihrem Stubenwagen neben dem Tisch, als Pia aus der Handtasche, in etwas Papier eingewickelt, den Füller holte und ihn mir überreichte.
Es war ein eigenartiger Augenblick. Ich zitterte, als ich ihn annahm.
Der Füller hatte in ihrer Handtasche gelegen, zwischen ihren
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