Der Tag ist hell, ich schreibe dir
fröhliches Gesicht vor Augen, erzähl davon, los, erzähl, wie leicht alles war, und ich dachte, es ist verrückt, aber egal, wovon du erzählst, es unterläuft dir immer etwas, das sich in deinem Unterbewussten abspielt.
» Wieso waren Sie eigentlich schon neunzehn beim Abitur? Sind Sie mal sitzengeblieben?«
Ich lachte. » Nee, das nun wirklich nicht.«
Als ich Abitur machte, war ich neunzehn, weil ich erst mit sieben eingeschult worden war. Ich war dünn und anfällig und hatte im Wechsel mit sämtlichen Kinderkrankheiten entzündete Mandeln und Bronchitis. Obwohl ich den sogenannten Kann-Kinder-Test für Fünfjährige bestanden hatte, schickte mich der Kinderarzt zum Aufpäppeln an die Nordsee. Im Erholungsheim » Klaus Störtebeker« auf der Insel Föhr lernte ich Mundharmonika spielen, schnitzen, mit Fingerfarben malen und einschlägige Lieder singen, die ich noch heute auswendig kann: Als die Römer frech geworden und Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord. Schließlich kam ich nach einem sehr langen Jahr in die Schule. Später sollte ich immer wieder mal eine Klasse überspringen, aber ich hatte nie Lust dazu. Als ich es dir einmal erzählt habe, hast du mich ganz entsetzt angesehen: » Ich wäre immer gesprungen!«
Meine Eltern hatten ein Restaurant, das Restaurant des Bad Wildbader Golf Clubs. Dies bestimmte mein Leben. Zunächst wuchs ich hinter dem Clubhaus auf, im Garten, den mein Großvater angelegt hatte und der für mich das Paradies auf Erden war. Mit roten, rosa und weißen Dahlien, Erbsen, die ich aus der Schale pulte, riesig hohen Rosen und süß schmeckenden Himbeeren. Hinter dem Garten öffnete sich die Freiheit: ein luftiger Mischwald, dessen Grenze für mich die nahe gelegenen Bahngleise bildeten. » Bis zu den Gleisen darfst du!«, rief Mama jeden Tag, bevor ich loszog. » Weiter nicht!« Als ich etwas größer war, durfte ich bis zum Bach, zur Wassertretstelle und zum Schläferskopf, einem beliebten Ausflugsziel. So erstreckten sich meine Entdeckungsreisen von Opas Garten aus immer weiter. Ich streunerte herum, und das Herumstreunern liebe ich bis heute.
Mein Opa war ein Oberschlesier, der das R rollte und alle Umlaute umformte: Schön wurde scheen, glücklich wurde glicklich. Er las jede Woche das Oppelner Blättchen, aber er war kein Revanchist. Dazu war er zu katholisch. » Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, so ist es und so bleibt es«, sagte er oft. Sonntags nahm Opa mich mit in die Kirche und zu meinem Onkel, der drei Söhne hatte und in der Stadt wohnte. Mein Opa hatte im Laufe seines Lebens zwei Kriegsgefangenschaften überstanden und zweimal sein gesamtes Vermögen verloren, wobei Vermögen etwas hoch gegriffen ist. Seine Frau, meine Großmutter, habe ich leider nicht mehr kennengelernt. Sie hatte über dem Zweiten Weltkrieg und der Tatsache, dass sie mit ihrer Tochter, meiner Mutter also, über drei Jahre in einem Flüchtlingslager in der Oberpfalz hatte verbringen müssen, die Lust am Leben verloren. Sie hatte angefangen, geistigen Wässerchen zuzusprechen. Meine Mutter rückte, was sie betraf, nicht gern mit der Sprache heraus. Es machte sie zu traurig. » Früher, in Oppeln«, sagte sie, » ist sie eine sehr elegante Dame gewesen. Sie hat ausgezeichnet gekocht.«
Die Familie hatte sich nach Flucht und Gefangenschaft in Bad Wildbad im Hessischen wiedergefunden und einen Neuanfang gemacht. Mein Opa hatte bald wieder eine Aufgabe; er leitete die Gartenabteilung eines Kaufhauses. In seinem Vorkriegsleben hatte er ein Geschäft gehabt, Kohlen, Gemischtwaren, mit Bäckerei. » Ich war ein richtiger Koofmich«, sagte er oft, aber meine Mutter korrigierte ihn sofort: » Du warst der Kohlenpapst von Oberschlesien, so hat man dich genannt!« – » Und du warst mein kleines Mädchen!«, gab er dann schmunzelnd zurück.
Meine Mutter durfte in Bad Wildbad die Hauswirtschaftsschule besuchen, obwohl sie kein Abitur hatte. Sie arbeitete danach eine Weile in der Snackbar des Kurhauses, bei den Amerikanern, genauso wie mein Vater, den sie dort kennenlernte. Sie heirateten und übernahmen bald das Restaurant des Golf Clubs. In seiner Freizeit legte Opa einen Garten hinter dem Clubhaus an, das im englischen Landhausstil gebaut war. Ein flaches, lang gestrecktes Holzhaus, weiß gestrichen, mit grünen Fensterläden. Opa half auch in der Küche aus, am Wochenende. Vor allem aber kümmerte er sich um mich. Ich spielte zwischen seinen Bohnenranken und Dahlien
Weitere Kostenlose Bücher