Der Talisman
Morgans Stimme gewesen. Nicht vielleicht, nicht fast, nicht ungefähr. Es war eine wirkliche Stimme gewesen. Die Stimme von Richards Vater.
6
Auf der Heimfahrt fragte sie ihn: »Was war da drinnen mit dir los, Jack?«
»Nichts. Mein Herz hat nur versucht, ein kleines Gene Krupa-Riff zu spielen.« Er demonstrierte es durch einen kurzen Wirbel auf dem Armaturenbrett. »Eine leichte Pseudotachykardie, genau wie in General Hospital.«
»Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen, Jacky.« Die Instrumentenbeleuchtung des Armaturenbretts ließ sie blass und abgezehrt erscheinen. Zwischen Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand qualmte eine Zigarette. Sie fuhr sehr langsam – nie mehr als sechzig –, wie immer, wenn sie zu viel getrunken hatte. Sie hatte ihren Sitz ganz nach vorn geschoben und den Rock hochgezogen, so dass ihre mageren Knie beiderseits der Steuersäule aufragten und ihr Kinn über dem Lenkrad zu hängen schien. Einen Augenblick lang hatte sie etwas von einem hässlichen alten Weib, und er sah schnell weg.
»Tu ich auch nicht«, murmelte er.
»Was?«
»Dich für dumm verkaufen«, sagte er. »Es war nur eine Art Zucken. Tut mir leid.«
»Schon gut«, sagte sie. »Ich dachte, es hinge irgendwie mit Richard Sloat zusammen.«
»Nein.« Sein Vater hat unten am Strand aus einem Loch im Sand zu mir gesprochen, das ist alles. In Gedanken hörte ich ihn reden, wie von der Tonspur eines Films. Er sagte, du wärst so gut wie tot.
»Vermisst du ihn, Jack?«
»Wen, Richard?«
»Spiro Agnew etwa? Natürlich Richard.«
»Manchmal.« Richard Sloat besuchte jetzt eine Schule in Illinois – eine jener Privatschulen, in denen die Teilnahme am Gottesdienst Pflicht war und niemand Akne bekam.
»Irgendwann wirst du ihn wieder sehen.« Sie fuhr ihm durchs Haar.
»Mom, fehlt dir etwas?« Die Worte brachen aus ihm heraus. Er spürte, wie seine Finger sich in seine Schenkel gruben.
»Nein«, sagte sie und zündete sich eine weitere Zigarette an (dabei ging sie auf dreißig herunter; ein verbeulter Kleinlaster überholte sie mit lauten Hupen). »Mir geht es ausgezeichnet.«
»Wie viel hast du abgenommen?«
»Jacky, der Mensch kann nie zu dünn oder zu reich sein.« Sie hielt inne und lächelte ihn dann an. Es war ein müdes, schmerzliches Lächeln, das ihm alles sagte, was er wissen musste.
»Mom …«
»Genug davon«, sagte sie. »Es ist alles in Ordnung, glaub mir. Sieh zu, ob du im Radio irgendwo ein bisschen Bebop findest.«
»Aber …«
»Stell das Radio an und halt den Mund.«
Eine Bostoner Station brachte Jazz – ein Altsaxophon spielte das Thema von »All the Things You Are«. Aber der Ozean lieferte einen steten, sinnlosen Kontrapunkt dazu. Und später konnte er das große Skelett der Achterbahn vor dem Himmel aufragen sehen. Und die weitläufige Anlage des Alhambra Inn. Wenn das ihr Zuhause war, dann waren sie zu Hause.
Drittes Kapitel
Speedy Parker
1
Am nächsten Tag war die Sonne zurückgekehrt – eine harte, helle Sonne, die wie Farbe auf dem flachen Strand und dem schrägen, mit roten Ziegeln gedeckten Dachstreifen lag, den Jack vom Fenster seines Schlafzimmers aus sehen konnte. Eine lange, flache Welle weit draußen im Meer schien im Licht zu erstarren und einen Speer aus Helligkeit direkt in seine Augen zu lenken. Der Sonnenschein kam Jack anders vor als das Licht in Kalifornien – irgendwie dünner, kälter, weniger nahrhaft. Die Welle draußen auf dem dunklen Meer zerschmolz und türmte sich dann wieder auf; ein harter, blendender Goldstreifen sprang über sie hinweg. Jack wandte sich vom Fenster ab. Er hatte schon geduscht und sich angezogen, und seine innere Uhr sagte ihm, dass es an der Zeit war, sich auf den Weg zur Schulbus-Haltestelle zu machen. Viertel nach sieben. Aber natürlich würde er auch heute nicht zur Schule gehen, nichts war mehr normal; er und seine Mutter würden nur wie Gespenster durch weitere zwölf Stunden Tageslicht driften. Kein Stundenplan, keine Verpflichtungen, keine Hausarbeiten – überhaupt keine Ordnung außer der, die durch die Essenszeiten diktiert wurde.
War heute überhaupt ein Schultag? Jack blieb vor seinem Bett stehen, ergriffen von einer leichten Panik, weil seine Welt so gestaltlos geworden war. Er hatte nicht das Gefühl, dass dies ein Samstag war. Jack versuchte sich auf den letzten Tag zu besinnen, den er in seiner Erinnerung mit Sicherheit identifizieren konnte; das war der letzte Sonntag gewesen. Seiner
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