Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
Vom Netzwerk:
von dem gewundenen Pfad durch die Gartenanlagen auf die Auffahrt des Hotels heruntersprang, schob er die Hände in die Taschen. Sie ist auf der Flucht, mein Junge, und du flüchtest mit ihr. Auf der Flucht, aber vor wem? Und wohin? Hierher – ausgerechnet hierher, in diesen verlassenen Badeort?
    Er erreichte die breite Straße, die an der Küste entlang in den Ort führte, und die ganze leere Landschaft vor ihm war wie ein Strudel, der ihn einsaugen und dann an irgendeinem schwarzen Ort wieder ausspucken konnte, einem Ort, an dem es Frieden und Sicherheit nie gegeben hatte. Eine Möwe segelte über die leere Straße, beschrieb einen großen Bogen und flog dann wieder zum Strand. Jack sah ihr nach, bis sie zu einem weißen Punkt über dem bizarren Gerüst der Achterbahn zusammengeschrumpft war.
    Lester Speedy Parker, ein Schwarzer mit krausem grauem Haar und tiefen Furchen, die in seine Wangen einschnitten, war irgendwo dort drüben im Vergnügungspark, und es war Speedy, zu dem er gehen musste. Der Gedanke war ebenso deutlich wie die Erkenntnis, die er plötzlich über den Vater seines Freundes Richard gewonnen hatte.
    Eine Möwe kreischte, eine Welle schleuderte ihm hartes, goldenes Licht entgegen, und Jack sah Onkel Morgan und seinen neuen Freund Speedy als Gestalten, die einander fast allegorisch gegenüberstanden, als wären sie Statuen von TAG und NACHT, auf Sockel montiert, MOND und SONNE – das Dunkle und das Helle. In dem Augenblick, in dem Jack begriffen hatte, dass Speedy Parker seinem Vater gefallen hätte, hatte er auch gewusst, dass in dem ehemaligen Bluesmusiker nichts Böses steckte. Onkel Morgan dagegen war ein völlig anderer Mensch. Bei Onkel Morgan drehte sich alles ums Geschäft, um den Profit, ums Vorwärtskommen; er war so ehrgeizig, dass er beim Tennisspiel gegen jeden auch nur eine Spur zweifelhaften Punkt Einspruch erhob; sogar so ehrgeizig, dass er bei den Pokerpartien mit einem Einsatz von nur einem Cent mogelte, zu denen sein Sohn ihn hin und wieder überredet hatte. Zumindest glaubte Jack, dass Onkel Morgan bei etlichen ihrer Spiele gemogelt hatte – er gehörte nicht zu denen, die mit Anstand verlieren konnten.
    NACHT und TAG, MOND und SONNE, DUNKEL und HELL, und der schwarze Mann war bei diesen Kontrasten das Helle. Als Jack mit seinen Gedanken so weit gekommen war, stürmte die Panik, gegen die er in den gepflegten Gartenanlagen des Hotels angekämpft hatte, von neuem auf ihn ein. Er rannte.
     
    2
     
    Als der Junge Speedy vor dem grauen und abblätternden Arkadengebäude entdeckte – er wickelte Isolierband um ein dickes Kabel, den Stahlwollekopf fast bis auf die Pier gesenkt; das magere Gesäß zeichnete sich unter dem abgewetzten grünen Stoff seiner Arbeitshose ab, und die staubigen Sohlen seiner Stiefel wirkten wie hochkant gestellte Surfbretter, wurde ihm klar, dass er keine Ahnung hatte, was er ihm hatte sagen wollen; er wusste nicht einmal, ob er vorgehabt hatte, überhaupt etwas zu sagen. Speedy führte die Bandrolle noch einmal um das Kabel, nickte, zog ein abgenutztes Messer aus der Tasche seines Arbeitshemdes und trennte das Band mit einem säuberlichen Schnitt von der Rolle. Jack wäre am liebsten auch von hier geflüchtet – er störte den Mann bei der Arbeit; außerdem war der Gedanke, dass Speedy ihm wirklich irgendwie helfen könnte, völlig absurd. Wie sollte er ihm helfen können – ein alter Wachmann in einem leeren Vergnügungspark?
    Dann wandte Speedy den Kopf und registrierte die Anwesenheit des Jungen mit einem Ausdruck herzlichen Willkommens – es war weniger ein Lächeln als ein Vertiefen der Falten in seinem Gesicht –, und Jack wusste, dass er zumindest nicht störte.
    »Travelling Jack«, sagte Speedy. »Ich fürchtete schon, du hättest beschlossen, nicht mehr herzukommen. Noch dazu, wo wir doch gerade Freunde werden. Schön, dich wieder zu sehen, Junge.«
    »Ja«, sagte Jack. »Ich freue mich auch, Sie wieder zu sehen.«
    Speedy ließ das Messer wieder in die Hemdentasche gleiten und richtete seinen langen, knochigen Körper so geschmeidig, so athletisch auf, dass er gewichtlos wirkte. »Dieser ganze Laden geht vor die Hunde«, sagte er. »Ich bringe nur hier und da etwas in Ordnung, damit alles mehr oder weniger so läuft, wie es laufen soll.« Er brach ab und blickte Jack ins Gesicht. »Mir scheint, mit der Welt stimmt einiges nicht. Travelling Jack schleppt eine Menge Sorgen mit sich herum. Ist das so?«
    »Ja, so ungefähr«, setzte Jack an

Weitere Kostenlose Bücher