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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Berechnung nach musste heute Donnerstag sein. Donnerstags hatte er Computer-Unterricht bei Mr. Balgo und frühmorgens Sport. So wenigstens war es gewesen, als sein Leben noch normal verlief, zu einer Zeit, die ihm – obwohl sie erst vor wenigen Monaten geendet hatte – jetzt unwiederbringlich verloren vorkam.
    Er wanderte aus seinem Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Als er an der Vorhangschnur zog, flutete das harte, helle Licht ins Zimmer und bleichte die Möbel. Dann drückte er den Knopf des Fernsehers und setzte sich auf die steife Couch. Seine Mutter würde frühestens in einer Viertelstunde aufstehen. Wahrscheinlich sogar später; sie hatte zum Essen am vergangenen Abend drei Drinks gehabt.
    Jack warf einen Blick auf die Tür zu ihrem Zimmer.
    Zwanzig Minuten später klopfte er leise an. »Mom?« Ein undeutliches Murmeln war die Antwort. Jack stieß die Tür einen Spaltbreit auf und spähte hinein. Sie hob den Kopf vom Kissen und blinzelte durch halbgeschlossene Lider.
    »Jacky. Morgen. Wie spät ist es?«
    »Fast acht.«
    »Du lieber Gott. Bist du am Verhungern?«
    »Es geht. Aber ich mag nicht mehr herumsitzen. Ich wollte nur fragen, ob du bald aufstehen willst.«
    »Nicht wenn es sich vermeiden lässt. Geh in den Speisesaal hinunter und lass dir etwas zu essen geben. Und dann kannst du dich am Strand amüsieren, ja? Du wirst eine bessere Mutter haben, wenn du ihr noch eine Stunde im Bett gönnst.«
    »Klar«, sagte er. »Okay. Bis später.«
    Ihr Kopf war schon wieder aufs Kissen gesunken.
    Jack schaltete den Fernseher aus und verließ das Zimmer, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Schlüssel in der Tasche seiner Jeans steckte.
    Der Fahrstuhl roch nach Kampfer und Ammoniak – eines der Mädchen hatte eine Flasche vom Wagen fallen lassen. Die Türen öffneten sich; der graue Portier verzog das Gesicht und wendete sich dann ostentativ ab. Dass du der Balg eines Filmstars bist, hat hier überhaupt nichts zu besagen, mein Junge – und warum bist du nicht in der Schule? Jack trat durch den getäfelten Eingang zum Speisesaal – zum Saddle of Lamb – und sah Reihen von leeren Tischen in einer verschatteten Öde. Vielleicht sechs waren gedeckt. Eine Kellnerin in weißer Bluse und rotem Faltenrock sah ihn an und wandte dann den Blick ab. Zwei erschöpft wirkende alte Leute saßen an einem Tisch am anderen Ende des Raums. Sonst frühstückte hier niemand. Jack beobachtete, wie sich der alte Mann über den Tisch lehnte und die Spiegeleier seiner Frau in kleine Quadrate zerschnitt.
    »Einen Tisch für eine Person?« Die Frau, die tagsüber im Saddle of Lamb die Aufsicht hatte, war neben ihm aufgetaucht und griff bereits nach einer Speisekarte von dem Stapel neben dem Reservierungsbuch.
    »Ich hab mir’s anders überlegt. Entschuldigen Sie.« Jack flüchtete.
    Das kleinere Restaurant des Alhambra, die Beachcomber Lounge, lag jenseits der Halle am Ende eines langen, öden, von leeren Schaukästen gesäumten Ganges. Sein Hunger verging, als er sich vorstellte, dort ganz allein am Tresen sitzen und zusehen zu müssen, wie ein gelangweilter Koch Speckstreifen auf den verkrusteten Grill warf. Er würde warten, bis seine Mutter aufgestanden war – oder, noch besser, hinausgehen und zusehen, ob er in einem der Läden an der Straße, die in den Ort führte, einen Krapfen und eine kleine Packung Milch bekam.
    Er stieß die schwere Eingangstür des Hotels auf und trat in den Sonnenschein hinaus. Einen Augenblick lang blendete ihn die unvermutete Helligkeit. Er kniff die Augen zusammen und ärgerte sich, weil er nicht daran gedacht hatte, seine Sonnenbrille einzustecken. Er überquerte den Vorplatz aus roten Ziegelsteinen und gelangte über die vier gerundeten Stufen auf den Weg durch die Gartenanlagen vor dem Hotel.
    Was würde geschehen, wenn sie starb?
    Was würde mit ihm geschehen – wohin würde er gehen, wer würde für ihn sorgen, wenn wirklich das Allerschlimmste eintrat und sie starb, ein für allemal und unwiderruflich starb, da oben in diesem Hotelzimmer?
    Er schüttelte den Kopf, versuchte, den entsetzlichen Gedanken abzuschütteln, bevor aus den gepflegten Gartenanlagen des Alhambra eine lauernde Panik hervorbrach und ihn in Stücke riss. Er würde nicht weinen, er würde es nicht zulassen – und er würde nicht über die Tarrytoons nachdenken und über das Gewicht, das sie verloren hatte, über das Gefühl, dass auch sie hilflos war und sich ziellos treiben ließ. Er ging jetzt sehr schnell, und als er

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