Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis
MICHAIL CHODORKOWSKI
Vorwort
Als mir 2004, nach knapp einem Jahr in der Gefängniszelle, zum ersten Mal angetragen wurde, meine Memoiren oder wenigstens eine ausführliche Selbstauskunft zu verfassen, lehnte ich nach kurzer Überlegung ab. In meinen Augen sind Memoiren vor allem eine Art Bilanz des eigenen Lebensweges, und das bedeutet unweigerlich, dass man sein Innerstes, das, was man sein Leben lang in sich trägt, offenlegt – vorausgesetzt, man ist ehrlich mit sich selbst. Damals schien mir der Zeitpunkt dafür noch nicht gekommen.
Die Welle von Verhaftungen von Yukos-Mitarbeitern, die erzwungene Ausreise meiner Geschäftspartner und vieler mir nahestehender Freunde aus Russland, die enormen Steuerforderungen, die letztlich die erzwungene Pleite und Zerschlagung des Unternehmens zur Folge hatten – all das war noch zu »heiß«, und ich hatte das Gefühl, meine Offenheit könnte diejenigen gefährden, die noch in Freiheit waren. Und was ich am wenigsten mag, ist, meine Pflichten zu verletzen – auch wenn es in diesem Fall keine konkreten Verpflichtungen gab, den Inhalt von Gesprächen, Unterredungen etc. geheim zu halten.
Nachdem ich in die praktische Politik eingetaucht war, stellte ich mit einem vielleicht etwas naiven Erstaunen fest, dass Moral hier wirklich keinen Platz hat, dass selbst elementarer Anstand nichts gilt, und dass Verrat und Lüge ganz einfach die gängigen Verhaltensweisen sind. In der Politik wird ununterbrochen gelogen, mit und ohne Grund, es wird gelogen, weil es »so sein muss«, und je weiter oben in der Machtpyramide jemand steht, desto tiefer reißt ihn dieser Strudel der Lüge hinab.
Auch jetzt, im neunten Jahr meiner Haft, fällt mir hier im Straflager in Karelien, während ich im Fernsehen den Ablauf der sogenannten »Wahlen« verfolge, unweigerlich auf, wie da eine Art Teufelskreis der Lüge entsteht, der »Lüge im Quadrat« oder sogar »im Kubik«, deren simple Winkelzüge auch ein Häftling ohne Zugang zum Internet erkennt. Die Abgeordneten der Staatsduma lauschen mit verständigem Blick den Ausführungen der Staatsführung zur Korruption. Dabei wissen sie nur zu gut, dass die Korruption längst sämtliche Bereiche unseres Lebens durchdringt und dass sich durch bloße Worte, und sei es der höchsten »Entscheidungsträger«, nichts ändern wird, solange es nicht zu einem Regimewechsel kommt und sich kein anderes Regierungssystem in Russland etabliert. Auch der Redner auf der großen Tribüne der Staatsduma weiß bestens über die Korruption Bescheid; ihm ist außerdem klar, dass die Abgeordneten ihm nicht glauben, sondern nur einen »verständigen Gesichtsausdruck« aufsetzen. Der Fernsehzuschauer, der diese neuerliche Lügenspirale verfolgt, erträgt das alles nicht mehr und schaltet, wann immer es geht, auf TV-Serien um. Aber das Schlimmste ist, dass sowohl dem »Korruptionsbekämpfer« am Rednerpult als auch den Duma-Abgeordneten ebenso wie der gesamten Regierung nur allzu klar ist, dass der Fernsehzuschauer ihnen nicht glaubt und die Bevölkerung das alles nicht mehr sehen will. An die Effizienz einer solchen »Korruptionsbekämpfung« glaubt niemand mehr, aber alle reden sich ein, die Lüge sei ein integraler Bestandteil der Politik, und anders gehe es nun einmal nicht.
Für mich war es in meinem früheren Leben als Unternehmer unmöglich zu lügen: Entgegen den vielen Gerüchten über meine angebliche »Unfähigkeit zu verhandeln« (und das ist einer der Lieblingsmythen des Kreml) wussten alle, mit denen ich in den Jahren meines Unternehmerdaseins direkt zu tun hatte, dass ich kein einfacher Verhandlungspartner war und sehr zäh sein konnte. Aber niemals – niemals! – habe ich Verpflichtungen, die ich übernommen hatte, nicht erfüllt. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie man unternehmerisch tätig sein kann, wenn man Vereinbarungen nicht einhält – schließlich kommt man dann entweder aus den Prozessen nicht mehr heraus, oder man stirbt keines natürlichen Todes … Das »Eintauchen« in die Politik hat mich jedenfalls erschüttert: Worte und Verpflichtungen kamen den Politikern leicht über die Lippen, ebenso leicht wurden sie auch wieder gebrochen.
Und obwohl ich, wie schon erwähnt, niemandem gegenüber konkret verpflichtet war, Vereinbarungen und anderes geheim zu halten, bin ich heute nach wie vor überzeugt, dass ich, ehe ich von jemand anderem berichte als mir selbst (und ohne das geht es in Memoiren nun einmal nicht), ihn zuvor fragen muss, ob
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