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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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unterbrach ihn der Schwarze, der Speedy Parker sein mochte oder auch nicht. »Nein, niemand weiß das. Wenn du es wüsstest, würdest du den ganzen Tag im Haus bleiben und hättest Angst, auch nur den Fuß vor die Tür zu setzen! Ich kenne deine Probleme nicht, Junge, und ich will auch nichts davon wissen. Klingt ziemlich verrückt, dieses Gerede über Erdbeben und so. Aber weil du mir geholfen hast, mein Geld einzusammeln, ohne mir etwas zu stehlen – ich weiß es, weil ich jedes Klimpern gezählt habe –, will ich dir einen Rat geben. Es gibt Dinge, an denen man nichts ändern kann. Manchmal kommen Leute ums Leben, weil jemand etwas tut … aber wenn dieser Jemand dieses Etwas nicht täte, würden viel mehr Leute ums Leben kommen. Verstehst du, worauf ich hinauswill, mein Sohn?«
    Die schmutzige Sonnenbrille wandte sich ihm zu.
    Jack verspürte einen tiefen Schauder der Erleichterung. Er verstand sehr gut. Der Blinde sprach von schwerwiegenden Entscheidungen. Er deutete an, dass es einen Unterschied geben mochte zwischen schwerwiegenden Entscheidungen und verbrecherischem Tun. Und dass der Verbrecher vielleicht gar nicht hier war.
    Der Verbrecher war vielleicht der Mann, der ihm vor fünf Minuten am Telefon gesagt hatte, er solle seinen Arsch heimwärts schwenken.
    »Es könnte sogar sein«, bemerkte der Blinde und schlug eine dunkle D-Moll-Saite an, »dass alles, was wir tun, dem Herrn dient, wie meine Momma mir erzählt hat und deine Momma vielleicht dir, wenn sie eine gute Christin ist. Vielleicht glauben wir, eine Sache zu tun, tun aber in Wirklichkeit ganz etwas anderes. In der Bibel heißt es, dass alle Dinge, selbst die, die scheinbar böse sind, dem Herrn dienen. Was hältst du davon, Junge?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Jack aufrichtig. Er war völlig verwirrt. Er brauchte nur die Augen zu schließen, um zu sehen, wie das Telefon sich von der Wand löste, wie es an seinen Drähten hing wie eine gespenstische Marionette.
    »Jedenfalls riecht es, als hätte es dich zum Trinken verleitet.«
    »Wie?« fragte Jack verblüfft. Dann dachte er: Ich dachte daran, dass Speedy Mississippi John Hurt ähnlich sieht, und dieser Mann spielt einen John Hurt-Blues … und jetzt spricht er vom Zaubersaft. Er ist vorsichtig, aber ich bin ganz sicher, dass er den Zaubersaft meint – es kann nicht anders sein!
    »Sie sind ein Gedankenleser«, sagte Jack leise. »Stimmt’s? Haben Sie das in der Region gelernt, Speedy?«
    »Weiß nicht, was du damit meinst«, sagte der Blinde, »aber im November sind meine Lichter seit zweiundvierzig Jahren tot, und in zweiundvierzig Jahren lernen Nase und Ohren, was die Augen nicht mehr können. Ich rieche billigen Wein an dir, mein Sohn. Alles an dir riecht danach. Fast so, als hättest du dir die Haare damit gewaschen.«
    Jack fühlte sich auf seltsam träumerische Art schuldig – so, wie er sich immer fühlte, wenn man ihm vorwarf, etwas angestellt zu haben, und er in Wirklichkeit unschuldig war –, weitgehend unschuldig zumindest. Seit er in diese Welt zurückgekehrt war, hatte er die fast leere Flasche nur gelegentlich berührt, und schon das Berühren erfüllte ihn mit Furcht – ihm war dabei ungefähr so zumute, wie einem europäischen Bauern im vierzehnten Jahrhundert zumute gewesen sein mochte, wenn er einen Splitter vom Kreuz Christi oder den Fingerknochen eines Heiligen berührte. Es steckte Zauberkraft darin. Starke Zauberkraft. Und manchmal brachte sie Leute um.
    »Ich habe ihn nicht zum Spaß getrunken, ehrlich«, brachte er schließlich heraus. »Und was ich hatte, ist fast alle. Es … ich … Mann, ich kann das Zeug nicht ausstehen 1 .« Sein Magen begann sich nervös zu verkrampfen; schon beim Gedanken an den Zaubersaft wurde ihm schlecht. »Aber ich brauche mehr davon. Nur für alle Fälle.«
    »Mehr Purpurjesus? Ein Junge in deinem Alter?« Der Blinde lachte und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Teufel, du brauchst das Zeug doch nicht. Kein Junge ist auf dieses Gift angewiesen.«
    »Aber …«
    »Komm, ich singe ein Lied für dich, um dich aufzumuntern. Mir scheint, du kannst es brauchen.«
    Er begann zu singen, und seine Singstimme klang völlig anders als seine Sprechstimme. Sie war tief und kraftvoll und mitreißend – sie klang fast, dachte Jack ehrfürchtig, wie die geschulte, kultivierte Stimme eines Opernsängers, der zu seinem Vergnügen populäre Lieder singt. Jack spürte, wie sich seine Arme und sein Rücken beim Klang dieser kraftvollen Stimme

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