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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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vorwärts und stieß die Tasse des Blinden um. Münzen fielen heraus und rollten davon. Die sanfte Bluesmelodie brach mit einem Misston ab.
    Mr. All-America und seine drei kleinen Prinzessinnen zogen bereits weiter. Jack starrte ihnen nach und empfand die jetzt bereits vertraute ohnmächtige Wut. So erging es einem, wenn man auf sich allein gestellt war, jung genug, um jedermann auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert zu sein – jedermann, von einem Psychopathen wie Osmond bis zu einem humorlosen alten Lutheraner wie Elbert Palamountain, dessen Vorstellung von einem ausgefüllten Arbeitstag darin bestand, einen in unaufhörlich niederprasselndem kaltem Oktoberregen zwölf Stunden durch ein schlammiges Feld waten zu lassen und in der Mittagspause kerzengerade aufgerichtet in der Kabine seines International Harvester zu sitzen, Zwiebelsandwiches zu verzehren und dabei aus dem Buch Hiob vorzulesen.
    Jack hatte nicht das Bedürfnis, es ihnen heimzuzahlen, obwohl ihm irgendwie so war, als könnte er es, wenn er es nur wollte – dass er auf seltsame Art an Kraft gewann, fast einer elektrischen Ladung vergleichbar. Manchmal hatte er den Eindruck, als bemerkten andere Leute das auch – es stand in ihren Gesichtern geschrieben, wenn sie ihn ansahen. Aber er wollte es ihnen nicht heimzahlen; er wollte nur in Ruhe gelassen werden. Er …
    Der Blinde tastete um sich herum nach dem verstreuten Geld, und seine dicklichen Hände glitten so sanft über das Pflaster, dass sie fast darauf zu lesen schienen. Er ertastete ein Zehncentstück, stellte seine Tasse wieder hin und ließ es hineinfallen.
    Aus der Ferne hörte Jack eine der Prinzessinnen sagen: »Warum lässt man den hier sitzen? So ein schmutziger alter Kerl.«
    Noch weiter entfernt: »Ja, wahrhaftig.«
    Jack ließ sich auf die Knie sinken und begann zu helfen, er sammelte Münzen auf und steckte sie in die Tasse des Blinden. Hier unten, in der Nähe des alten Mannes, roch er sauren Schweiß, Schimmel und etwas Süßes, Mildes, so ähnlich wie Mais. Elegant gekleidete Kunden des Einkaufszentrums machten einen weiten Bogen um sie.
    »Danke, danke«, krächzte der Blinde monoton. Jack roch totes Chili in seinem Atem. »Danke, Gottes Segen, danke.«
    Es ist Speedy.
    Es ist nicht Speedy.
    Was ihn schließlich zum Sprechen zwang – und das war im Grunde nicht verwunderlich –, war der Gedanke daran, dass sein Zaubersaft zur Neige ging. Er hatte kaum noch zwei Schlucke übrig. Er wusste zwar nicht, ob er sich nach dem, was in Angola passiert war, je wieder dazu würde durchringen können, in der Region zu wandern, aber er war nach wie vor entschlossen, seiner Mutter das Leben zu retten, und das bedeutete, dass ihm vielleicht nichts anderes übrig blieb.
    Und um was es sich beim Talisman auch handeln mochte – es war möglich, dass er in die andere Welt flippen musste, um ihn zu bekommen.
    »Speedy?«
    »Danke, Gottes Segen, danke, habe ich nicht eine dorthin rollen gehört?« Er machte eine Handbewegung.
    »Speedy! Ich bin’s, Jack!«
    »Hier gibt’s niemanden, der Speedy heißt, Junge.« Seine Hände krochen auf dem Beton in die Richtung, in die er eben gedeutet hatte. Eine von ihnen fand ein Fünfcentstück; er ließ es in die Tasse fallen. Seine andere Hand kam mit dem Schuh einer elegant gekleideten jungen Frau in Berührung, die gerade vorüberging. Ihr hübsches, leeres Gesicht verzog sich angewidert, und sie entfernte sich rasch.
    Jack fischte die letzte Münze aus dem Rinnstein. Es war ein Silberdollar – das große alte Wagenrad mit der Lady Liberty auf einer Seite.
    Tränen schossen ihm aus den Augen. Sie rannen über sein schmutziges Gesicht, und er wischte sie mit einem Arm ab, der zitterte. Er weinte um Thielke, Wild, Hagen, Davey und Heidel. Um seine Mutter. Um Laura DeLoessian. Um den Sohn des Kutschers, der mit ausgeleerten Taschen tot auf der Straße lag. Aber vor allem um sich selbst. Er hatte es satt, auf der Straße zu sein. Vielleicht war es eine Straße der Träume, wenn man in einem Cadillac saß, aber wenn man sie als Anhalter bewältigen musste, angewiesen war auf den hochgereckten Daumen und eine Geschichte, die fadenscheinig zu werden begann, wenn man jedermann auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert war, dann war es nichts als eine Straße der Prüfungen. Jack hatte das Gefühl, genug Prüfungen bestanden zu haben – aber er konnte sich nicht mit Tränen aus der Affäre ziehen. Wenn er das tat, würde der Krebs seiner Mutter den Rest geben, und es war

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