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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Straßenschildern stand und den Verkehr auf dem Highway beobachtete, war ihm fast selbstmörderisch zumute Eine Zeitlang hatte er sich mit dem Gedanken in Gang gehalten, dass er bald mit Richard Sloat zusammentreffen würde (obwohl er es sich selbst kaum eingestand, war ihm die Idee, dass Richard mit nach Westen ziehen würde, mehr als einmal durch den Kopf geschossen – es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass ein Sawyer und ein Sloat gemeinsam eine verrückte Reise unternahmen), aber die schwere Arbeit auf der Palamountain-Farm und die seltsamen Vorgänge in der Buckeye Mall ließen selbst das im falschen Glanz von Narrengold erscheinen.
    Kehr um, Jacky, du bist geschlagen, flüsterte eine Stimme. Wenn du weiterziehst, endet es nur damit, dass man dir die Seele aus dem Leib prügelt … und das nächste Mal kommen vielleicht fünfzig Menschen ums Leben. Oder fünfhundert.
    Interstate 70 Ost.
    Interstate 70 West.
    Er griff in die Tasche und suchte nach der Münze – der Münze, die in dieser Welt ein Silberdollar war. Sollten die Götter, wer und wo immer sie sein mochten, ihm die Entscheidung abnehmen, ein für allemal. Er war zu erschöpft, um sie selbst zu treffen. Sein Rücken schmerzte noch von dem Schlag, den Mr. All-America ihm versetzt hatte. Wenn der Adler erschien, würde er die Auffahrt nach Osten hinaufgehen und sich auf die Heimreise machen. Wenn die Lady Liberty erschien, würde er die Reise fortsetzen – und kein einziges Mal mehr zurückblicken.
    Er stand im Staub des weichen Banketts und warf die Münze hoch in die kühle Oktoberluft. Sie flog, drehte sich mehrmals, funkelte im Sonnenlicht. Jack reckte den Hals, um ihr mit den Augen zu folgen.
     
    Ein alter Kombi fuhr vorbei, und die Familie in ihm unterbrach ihr Gezänk lange genug, um ihn neugierig zu mustern. Dem Mann am Steuer des Kombi, einem kahl werdenden Buchprüfer, der manchmal mitten in der Nacht aufwachte und sich einbildete, stechende Schmerzen in der Brust und im linken Arm zu haben, schoss plötzlich eine Reihe absurder Gedanken durch den Kopf. Abenteuer. Gefahr. Ein hochgestecktes, edles Ziel. Träume von Angst und Ruhm. Er schüttelte den Kopf, wie um ihn wieder klarzubekommen, und sah den Jungen im Rückspiegel des Wagens in dem Augenblick, in dem er sich bückte, um etwas zu betrachten. Himmel, dachte der kahl werdende Buchprüfer, schlag dir diese verrückten Gedanken aus dem Kopf, Larry, du steckst doch nicht in einer Abenteuergeschichte für fugendliche unter sechzehn.
    Larry fädelte sich in den Verkehr ein, beschleunigte auf hundert und vergaß den Jungen in seinen schmutzigen Jeans am Straßenrand. Wenn er es schaffte, bis drei zu Hause zu sein, konnte er sich im Fernsehen noch den Titelkampf im Mittelgewicht ansehen.
    Die Münze kam herunter. Jack beugte sich über sie. Es war der Kopf – aber das war nicht alles.
    Der Kopf auf der Münze war nicht der Lady Liberty. Es war der von Laura DeLoessian, der Königin der Region. Aber welch ein Unterschied zu dem bleichen, reglosen, schlafenden Gesicht, auf das er im Pavillon einen kurzen Blick hatte werfen können, umgeben von diensteifrigen Pflegerinnen mit wogenden weißen Hauben! Dieses Gesicht war wach und rege, lebhaft und schön. Es war keine klassische Schönheit; dazu war die Kinnlinie nicht klar genug, und der im Profil sichtbare Wangenknochen war ein wenig zu sanft. Ihre Schönheit lag in der königlichen Haltung des Kopfes, verbunden mit dem unabweisbaren Eindruck, dass sie ebenso gutherzig wie fähig war.
    Und es war dem Gesicht seiner Mutter so ähnlich.
    Jacks Augen füllten sich mit Tränen, und er blinzelte heftig, weil er nicht wollte, dass sie ihm über die Wangen liefen. Für einen Tag hatte er genug geweint. Er hatte seine Antwort, und die gab ihm keinen Grund zum Weinen.
    Als er die Augen wieder öffnete, war Laura DeLoessian verschwunden; der Kopf auf der Münze war wieder der der Lady Liberty.
    Dennoch hatte er seine Antwort erhalten.
    Jack bückte sich, holte die Münze aus dem Staub, steckte sie wieder in die Tasche und strebte der Auffahrt für die nach Westen führende Fahrbahn der Interstate 70 entgegen.
     
    3
     
    Ein Tag später; ein weißlich bedeckter Himmel und eine Luft, die nach kaltem Regen roch; die Grenze zwischen Ohio und Indiana von hier nur noch einen Katzensprung entfernt.
    »Hier« war ein Gehölz hinter dem Rastplatz von Lewisburg an der Interstate 70. Jack stand gut verborgen – so hoffte er jedenfalls – zwischen den

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