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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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so schwer und unangenehm an, als enthielte sie ein langsam wirkendes Gift. Ihm war, als bedrängten ihn schiefe Ebenen, verwinkelte Flure, Geheimkammern und blinde Korridore wie die Mauern einer großen und vielfältigen Krypta. Hier gab es Wahnsinn, lauernden Tod und geifernde Unvernunft. Jack verfügte vielleicht nicht über die Worte, um diesen Dingen Ausdruck zu geben, aber er spürte sie dennoch – er wusste, was ihm bevorstand. Und ebenso wusste er, dass alle Talismane der Welt ihn nicht vor diesen Dingen beschützen konnten. Er hatte sich auf ein makabres Ritual eingelassen, dessen Ausgang keineswegs sicher war.
    Er war ganz auf sich allein gestellt.
    Etwas kitzelte ihn im Genick. Er hob die Hand, um es wegzuwischen, und tat einen schnellen Schritt zur Seite. Richard stöhnte schwer in seinen Armen.
    Es war eine große schwarze Spinne, die an einem dicken Faden hing. Jack blickte hoch und sah ihr Netz in einem der stillstehenden Ventilatoren, ein schmutziges, verfilztes Gebilde zwischen den hölzernen Flügeln. Der Leib der Spinne war aufgetrieben. Jack konnte ihre Augen sehen. Er erinnerte sich nicht, jemals zuvor die Augen einer Spinne gesehen zu haben. Jack schlug einen Bogen um die hängende Spinne, um zu den Tischen zu gelangen. Die Spinne drehte sich am Ende ihres Fadens und verfolgte ihn mit den Augen.
    »Mieser Dieb!« kreischte sie ihn plötzlich an.
    Jack schrie auf und presste Richard mit panischer Kraft an sich. Sein Schrei widerhallte in dem hohen Speisesaal. Aus den Schatten im Hintergrund kam ein hohles metallisches Klirren, und etwas lachte.
    »Mieser Dieb, mieser DIEB!« kreischte die Spinne, und dann hangelte sie sich plötzlich zu ihrem Netz unter der verschnörkelten Blechdecke hinauf.
    Mit hämmerndem Herzen durchquerte Jack den Speisesaal und legte Richard auf einen der Tische. Der Junge stöhnte wieder, ganz matt. Jack spürte die dicken Quaddeln unter seiner Kleidung.
    »Ich muss dich eine Weile alleinlassen, Richie«, sagte Jack.
    Aus dem Schatten hoch über ihm: »Ich kümmre mich – kümmre mich – kümmre mich gut um ihn, du mieser Dieb – mieser Dieb …« Dann ein helles, summendes Kichern.
    Unter dem Tisch, auf den Jack Richard gelegt hatte, lag ein Stapel Tischdecken. Die obersten zwei oder drei waren schmierig vor Schimmel, aber ungefähr in der Mitte des Stapels fand er eine in halbwegs gutem Zustand. Er breitete sie aus und deckte Richard bis zum Hals damit zu. Dann machte er sich auf den Weg.
    Die Stimme der Spinne flüsterte dünn aus den Ventilatorflügeln herab, aus einer Dunkelheit, die nach verrotteten Fliegen und eingesponnenen Wespen stank. »… ich kümmre mich um ihn, du mieser Dieb …«
    Jack blickte betroffen auf, aber er konnte die Spinne nicht sehen. Er konnte sich die kalten, kleinen Augen vorstellen, sehen konnte er sie nicht. Ein quälendes, übelkeiterregendes Bild drängte sich ihm auf: die Spinne, die sich an ihrem Faden auf Richards Gesicht herabließ, zwischen Richards schlaffe Lippen kroch und in Richards Mund und dabei ununterbrochen mieser Dieb, mieser Dieb kreischte.
    Er dachte daran, die Tischdecke bis über Richards Mund hochzuziehen, und stellte dann fest, dass er es nicht fertig brachte, Richard zu etwas zu machen, das fast wie ein Leichnam aussah – es kam ihm fast vor wie eine Herausforderung.
    Er kehrte zu Richard zurück, stand unentschlossen da und wusste gleichzeitig, dass gerade diese Unentschlossenheit die hier lauernden Mächte freute – dass sie alles freute, was ihn vom Talisman fernhielt.
    Er griff in die Tasche und holte die große dunkelgrüne Murmel heraus, die in der anderen Welt ein Zauberspiegel war. Jack hatte keinerlei Veranlassung zu glauben, dass sie eine spezielle Macht gegen den bösen Blick besaß, aber sie kam aus der Region – und die Region war, vom Verheerten Land einmal abgesehen, ihrem Wesen nach gut. Und Güte, überlegte Jack, musste ihre eigene Macht über das Böse haben.
    Er bog Richards Hand um die Murmel. Richards Hand schloss sich und fiel dann langsam wieder auseinander, sobald Jack seine eigene wegzog.
    Von irgendwo über ihm kam das schmutzige Kichern der Spinne.
    Jack beugte sich tief über Richard, versuchte den Krankheitsgeruch, der dem Geruch dieses Hauses so ähnlich war, zu ignorieren und sagte: »Halt sie in der Hand, Richie. Halt sie fest, Kumpel.«
    »Nicht … Kumpel«, murmelte Richard, aber seine Hand schloss sich matt um die Murmel.
    »Danke, Richieboy«, sagte Jack. Er küsste sanft

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