Der tanzende Tod
geworden. Dies ist eine sehr schwer zu ertragende Wahrheit, die am schwersten zu ertragende Wahrheit, welche ich dir je mitteilen werde. Bitte glaube mir, dass ich es selbst kaum fassen konnte, als ich es erfuhr; also werde ich es dir nicht übel nehmen, wenn du es ebenfalls nicht glauben kannst.«
»Willst du mir etwa erzählen, du seiest über hundert Jahre alt?«
»Ja. Unser Zustand macht es möglich. Ich bin seit meinem Tode vor vielen, vielen Jahren nicht gealtert.«
»Und ... wann war das?«
Sie sog die Unterlippe ein. »Nein, das werde ich dir später erzählen. Du bist jetzt noch damit beschäftigt, den Gedanken zu akzeptieren. Es wird das Beste sein, wenn du zuerst darüber nachdenkst. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. In zehn oder zwanzig Jahren werden dich deine Freunde schließlich davon überzeugen.«
Ihre unmissverständlich gesprochenen Worte begannen mich im Zusammenspiel mit ihrem Verhalten bereits zu überzeugen. »Dies ist kein Scherz.«
»Nein.«
»Wir altern nicht?«
»Ich glaube, es hat damit zu tun, wie unsere Auflösung unsere Wunden heilt. Dies hält uns jung.«
»Aber es ist unmöglich.«
»Unsere reine Existenz sollte unmöglich sein, Jonathan, aber hier sind wir.« Einfach dazusitzen, ins Nichts zu starren und zweifelsohne auszusehen wie ein betäubtes Schaf hielt mich eine ganze Weile beschäftigt. Zusätzlich zu allem anderen war diese spezielle Enthüllung einfach zu viel, als dass ich sie hätte glauben können, aber die Gewissheit, mit der sie die Wahrheit sprach, begann in mein überstrapaziertes Gehirn zu sickern.
Sie fuhr fort. »Wir werden nicht alt, wir werden nicht krank – ich weiß nicht, ob wir überhaupt sterben können.«
»Aber alle Dinge sterben.«
»Dann werden wir vielleicht irgendwann sterben; das Wissen darum entzieht sich momentan meiner Kenntnis. Bitte belaste dich in der Zwischenzeit nicht damit, zu viel darüber nachzudenken. Ich habe dir dies erzählt, weil du es wissen musst; es war nicht dazu gedacht, dich zu quälen.«
»Wie könnte es mich quälen?«
»Das wirst du sehr bald herausfinden.«
»Sage es mir jetzt«, entgegnete ich, indem ich mich aufrecht hinsetzte und sie direkt anblickte.
Sie drehte sich von mir fort und legte die Hände auf den Kamin. »Es ist eine traurige Tatsache, dass wir unsere Lieben überleben. Dies war ein weiterer Grund dafür, dass ich wollte, dass du mich vergisst. Wärst du in England geblieben, so hätten wir vielleicht weiterhin zusammengelebt. Die Jahre wären vergangen, während derer ich geblieben wäre, wie ich war, und du immer älter geworden ...
und schließlich gestorben wärst. Ich habe dies bereits erlebt. Zuweilen hat es mich beinahe wahnsinnig gemacht.
Als du jenen Brief von deinem Vater erhieltest, verabscheute ich den Gedanken, dich zu verlieren, aber es schien besser, dich gehen zu lassen, damit du dein Leben weiterführen konntest. Dann wärst du stets lebendig in meiner Erinnerung, jung und voller Lebenskraft, so wie ich dich am besten gekannt hatte. Es war für mich ein schwerer Abschied, aber immer noch leichter, als zu sehen, wie die Jahre dich zerfräßen. Aufgrund dieser unnatürlichen Verlängerung von Leben und Jugend musste ich lernen, immer nur eine Nacht auf einmal zu leben, die Zeit, welche Gott mir mit jedem, den ich liebe, gewährt, zu genießen und zu schätzen; sonst wäre ich bereits vor Jahren durch all die Verluste wahrhaft wahnsinnig geworden.«
Einfache Worte, einfach ausgesprochen, und die schrecklichen Möglichkeiten begannen sich vor mir aufzutun. Dass auch ich fortleben würde, dass diejenigen, die ich liebte, altern und sterben würden, während ich jung und stark bliebe ...
Sie blickte mich an und sah, wie mich allmählich die Qual ergriff. Daraufhin trat sie zum Sofa zurück, um sich wieder neben mich zu setzen, und nahm meine Hände zwischen die ihren. »Dies ist die herzzerreißende Bürde, die wir zu tragen haben und die all die Vorteile, über welche wir verfügen, aufwiegt.«
»Aber können – können wir nicht unser Blut mit den anderen austauschen? Und sie wie uns machen?«
»Ja, es muss nicht auf fleischliche Weise vonstatten gehen. Ich habe es versucht. Aber außer bei dir und bei mir hat es niemals funktioniert.«
»Dann müssen wir herausfinden, was uns von ihnen unterscheidet. Wir müssen es einfach.«
»Aber –«
»Sieh mal, Oliver hat es in die Hand genommen, meinen Zustand ganz genau zu studieren und alles darüber herauszufinden, was
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