Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)
er.
»Weißt du was?« sagte Annie.
»Was?« sagte Rice.
»Wir sind zu jung«, sagte Annie.
»Nicht zu jung, um verliebt zu sein«, sagte Rice.
»Nein«, sagte Annie. »Nicht zu jung, um verliebt zu sein. Nur zu jung für so ziemlich alles andere, was Liebe mit sich bringt.« Sie küßte ihn. »Lebe
wohl, Rice. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich«, sagte er.
Sie stieg aus, und Rice fuhr weg.
Als der Motor ansprang, schaltete sich auch das Radio wieder ein. Diesmal spielte es ein altes Lied, und der Text ging so:
Zeit, ein süßes Lebewohl zu sagen
Dem, was nie sein könnte, unter dem Strich,
Den Versprechen, die wir nie zu halten wagen,
Einem magischen Du-und-ich.
Wollten wir je unsre Liebe beweisen,
Würde unsere Liebe hohl.
Laß sie uns scheuen, aber laß sie uns preisen.
Lebe wohl, süße Sanfte! Fremde, leb wohl!
SEINS? ODER NICHT SEINS?
A lles war total prima.
Es gab keine Gefängnisse, keine Slums, keine Irrenanstalten, keine Krüppel, keine Armut, keine Kriege.
Alle Krankheiten waren besiegt. Das Alter ebenfalls.
Der Tod, von Unfällen abgesehen, war ein Abenteuer für Freiwillige. Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten hatte sich stabil bei vierzig Millionen Seelen eingependelt.
Eines herrlichen Morgens wartete im Wöchnerinnenkrankenhaus von Chicago ein Mann namens Edward K. Wehling jun. darauf, daß seine Frau niederkam. Er war der einzige Wartende. Es wurden
pro Tag nicht mehr viele Menschen geboren.
Wehling war sechsundfünfzig, ein heuriger Hase in einer Bevölkerung, deren Durchschnittsalter hundertneunundzwanzig betrug.
Röntgenstrahlen hatten enthüllt, daß seine Frau Drillinge bekommen würde. Die Kinder sollten seine ersten sein.
Der junge Wehling saß krumm auf seinem Stuhl, den Kopf in den Händen. Er war so zerkrumpelt, so still und farblos, er war praktisch unsichtbar. Seine Tarnung war perfekt, weil auch
der Warteraum etwas Unordentliches und Demoralisiertes hatte. Stühle und Aschenbecher waren von den Wänden weggerückt worden. Auf dem Boden lagen Papierbahnen.
Der Raum wurde neu gestrichen. Er sollte ein Denkmal für jemanden werden, der freiwillig gestorben war.
Ein sardonischer alter Mann, etwa zweihundert Jahre alt, saß auf einer Trittleiter und arbeitete an einem Wandgemälde, das er nicht mochte. Damals, als die Menschen noch sichtbar
alterten, hätte man ihn auf etwa fünfunddreißig geschätzt. So alt war er gewesen, als das Altern heilbar wurde.
Das Wandgemälde stellte einen sehr ordentlichen Garten dar. Männer und Frauen in Weiß, Ärzte und Krankenschwestern, gruben das Erdreich um, pflanzten Setzlinge,
besprühten Käfer, verteilten Dünger. Männer und Frauen in lila Uniformen jäteten Unkraut, stutzten die Pflanzen, die alt und kränklich waren, rechten Laub, trugen
Abfall zu Müllverbrennern.
Nie, nie, nie – nicht einmal in Holland oder im alten Japan – war ein Garten förmlicher, besser gepflegt gewesen. Jede Pflanze hatte genau so viel Lehmerde, Licht,
Wasser, Luft und Nahrung, wie sie gebrauchen konnte.
Ein Pfleger kam den Flur entlang und sang leise einen populären Song vor sich hin:
Wenn du meine Küsse nicht magst, Schatz,
Ja, dann mache, dann mache ich Schluß.
Ein Mädchen in Lila, ratzfatz, Schatz,
Und die Welt kriegt den Abschiedskuß.
Dann ist unsere Liebe verratzt, Schatz,
Und Schluß mit der Schi-hinderei.
Ich verschwende doch hier keinen Platz, Schatz,
Und nach mir wird dann wieder was frei.
Der Pfleger sah sich Wandmalerei und Wandmaler an. »Sieht so echt aus«, sagte er, »daß ich mir praktisch vorstellen kann, ich bin mittendrin.«
»Wieso glauben Sie, Sie wären nicht mittendrin?« sagte der Maler. Er lächelte satirisch. »Es heißt nämlich Der glückliche Garten
des Lebens .«
»Dr. Hitz ist gut getroffen«, sagte der Pfleger.
Er bezog sich auf eine der männlichen Gestalten in Weiß, deren Kopf ein Porträt von Dr. Benjamin Hitz war, dem obersten Geburtshelfer im Hause. Hitz war ein blendend
gutaussehender Mann.
»Noch viele Gesichter auszufüllen«, sagte der Pfleger. Er meinte damit, daß viele der Gestalten auf dem Wandgemälde keine Gesichter hatten. Die sollten alle noch mit
Porträts von wichtigen Menschen ausgefüllt werden, entweder Krankenhauspersonal oder Mitarbeiter der Bundesanstalt für Abbruch in Chicago.
»Muß schön sein, Bilder malen zu können, die wie was aussehen«, sagte der Pfleger.
Das Gesicht des Malers verzerrte sich vor Verachtung. »Sie glauben, ich bin stolz
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