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Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)

Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)

Titel: Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Vonnegut
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Selbstmitleid und etwas, was sie Liebe nannten.
    »Meine Mutter hatte früher irgendwann irgendeinen Vorfahren, der Rice hieß«, sagte Rice. »Er war Arzt, und ich glaube, er war ziemlich berühmt.«
    »Dr. Siebold ist der einzige Mensch, der je versucht hat, mich als Mensch zu verstehen«, sagte Annie. Dr. Siebold war der Hausarzt der Familie des Gouverneurs.
    »Da gab es früher noch irgendwelche anderen berühmten Menschen –, mütterlicherseits«, sagte Rice. »Ich weiß nicht, was sie alles gemacht haben,
aber von daher fließt gutes Blut in der Familie.«
    »Dr. Siebold hat zugehört, wenn ich was zu sagen versuchte«, sagte Annie. »Meine Eltern hatten nie Zeit zum Zuhören.«
    »Deshalb wurde mein Alter immer so sauer auf mich –, weil ich soviel vom Blut meiner Mutter abgekriegt habe«, sagte Rice. »Weißt du –, ich will
Sachen machen und Sachen haben und leben und Risiken eingehen, und väterlicherseits sind wir gar nicht so.«
    »Mit Dr. Siebold konnte ich über Liebe sprechen. Ich konnte über alles mit ihm sprechen«, sagte Annie. »Bei meinen Eltern mußte ich nur immer alles
herunterschlucken.«
    »Sicherheit geht vor –, das ist ihr Motto«, sagte Rice. »Na, mein Motto ist es nicht. Sie wollen, daß ich mal so werde wie sie, und ich bin einfach nicht die
Art Mensch.«
    »Es ist schrecklich, wenn man jemanden dazu zwingt, immer alles herunterzuschlucken«, sagte Annie. »Ich habe die ganze Zeit geweint, und meine Eltern konnten sich gar nicht
erklären, warum.«
    »Deshalb habe ich diese Autos geklaut«, sagte Rice. »Ich bin einfach eines Tages durchgedreht. Sie haben versucht, mich dazu zu bringen, daß ich so Sachen mache wie mein
Vater, und ich bin einfach nicht die Art Mensch. Sie haben mich nie verstanden. Sie verstehen mich immer noch nicht.«
    »Aber das Schlimmste«, sagte Annie, »war, als mein eigener Vater mir befohlen hat zu lügen. Da wurde mir klar, daß meinen Eltern die Wahrheit nie wichtig war. Ihnen
ist nur wichtig, was die Leute denken.«
    »Diesen Sommer«, sagte Rice, »habe ich tatsächlich mehr Geld verdient als mein Alter oder einer von seinen Brüdern. Das hat ihm echt zu schaffen gemacht. Das hat ihm
gar nicht gepaßt.«
    »Meine Mutter hat plötzlich angefangen, mit mir über Liebe zu reden«, sagte Annie, »und ich habe mich furchtbar beherrschen müssen, um nicht zu schreien:
›Du weißt doch gar nicht, was Liebe ist! Du hast doch noch nie gewußt, was Liebe ist!‹«
    »Meine Eltern haben mir immer gesagt, ich soll mich wie ein Mann benehmen«, sagte Rice. »Dann, als ich tatsächlich angefangen habe, mich wie ein Mann zu benehmen, sind sie
gleich an die Decke gegangen. Was soll man denn nun machen?« sagte er.
    »Selbst wenn ich sie angeschrien hätte«, sagte Annie, »hätte sie nicht zugehört. Sie hört nie zu. Ich glaube, sie hat Angst davor, zuzuhören.
Weißt du, was ich meine?«
    »Mein älterer Bruder war der Favorit in unserer Familie«, sagte Rice. »Er konnte nie was falsch machen, und ich konnte nie was richtig machen, wenn es nach ihnen ging.
Meinen Bruder hast du nie kennengelernt, oder?«
    »Mein Vater hat etwas in mir abgetötet, als er mir zu lügen befahl«, sagte Annie.
    »Wir haben echt Glück gehabt, daß wir uns gefunden haben«, sagte Rice.
    »Was?« sagte Annie.
    »Ich habe gesagt: ›Wir haben echt Glück gehabt, daß wir uns gefunden haben‹«, sagte Rice.
    Annie nahm seine Hand. »O ja, o ja, o ja«, sagte sie leidenschaftlich. »Als ich dich zum erstenmal auf dem Golfplatz gesehen habe, bin ich fast gestorben, weil ich wußte,
wie sehr wir füreinander bestimmt waren. Nach Dr. Siebold fühle ich mich keinem Menschen so nahe wie dir.«
    »Wie jetzt –, welchem Doktor denn?« sagte Rice.
    Im Arbeitszimmer der Gouverneursvilla hatte Gouverneur Southard sein Radio an. Annie und Rice waren gerade aufgegriffen worden, zwanzig Meilen westlich von Cleveland, und Southard wollte wissen,
was die Nachrichten darüber zu sagen hatten.
    Bisher hatte er nur Musik gehört, und die hörte er auch jetzt:
    Heute fällt die Schule aus!
    (Zeit für die Liebe! Zeit für die Liebe!)
    Ich gehe in den Wald mit meiner süßen Maus!
    (Zeit für die Liebe! Zeit für die Liebe!)
    Der Gouverneur stellte das Radio ab. »Wie können sie es wagen , so was zu senden?« sagte er. »Die gesamte amerikanische
Unterhaltungsindustrie tut nichts, als Kindern zu sagen, daß sie ihre Eltern umbringen sollen – und sich selbst gleich mit.«
    Diese

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