Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
Vom Netzwerk:
erfassen. Sie opfern das Wissen für die Intuition. Sie erinnern sich beinahe vollkommen des Tonfalls, des Timbres, der Leidenschaft in Gottes Stimme, während die Bedeutungen, die die wahre Hexenkunst ausmachen, ihnen entgehen.«
    Mit diesen wenigen Worten hatte Kellhus die Geheimnisse der Psukhe, an denen sich alle, die über Hexenkunst nachdachten, seit Jahrhunderten vergeblich abgemüht hatten, gelöst.
    Der Kriegerprophet drehte sich zu ihm um und legte ihm seine auratisch leuchtende Hand auf die Schulter. »Die Wahrheit des Hier ist sein Überall. Und genau das, Akka, heißt, verliebt zu sein: das Hier im anderen zu erkennen, die Welt durch die Augen eines anderen zu sehen. Gemeinsam im Hier zu sein.«
    Die leuchtende Weisheit seines Blicks erschien Achamian unerträglich.
    Das letzte Abendrot war versunken, und die zerstörte Festung Charaöth lag in tiefer Finsternis.
    »Und darum leidest du so… Wenn das, was hier war, sich von dir abwendet, wie sie sich von dir abgewendet hat, scheint es, als könntest du nirgendwo mehr stehen.«
    Eine Stechmücke summte über ihnen.
    »Warum erzählst du mir das?«, rief Achamian.
    »Weil du nicht allein bist.«
     
     
    Die Sklaverei bekam ihr gut.
    Mehr noch als Yel oder Burulan liebte Fanashila ihre neue soziale Stellung. Morgens bemutterte sie ihre Gebieterin, nachmittags döste sie, und abends bemutterte sie ihre Gebieterin erneut. Sie liebte Gold, Parfüm und Seide. Und die Kosmetika, die die Herrin ihre Sklavinnen gebrauchen ließ. Sie liebte die Aura der Macht, großer Macht, und die Köstlichkeiten, die ihre Herrin ihnen zu probieren erlaubte. Fanashila war eine Fami, hatte also ihr ganzes Leben als Sklavin im Fama-Palast von Caraskand verbracht. Was bedeutete schon die Freiheit, Ziegen nachzulaufen, im Vergleich zu dieser Herrlichkeit?
    Opsara – diese böse, alte Hexe – beschimpfte sie natürlich bei jeder Gelegenheit. »Sie sind Götzendiener und Sklaventreiber! Wir müssen ihnen die Kehle durchschneiden, statt ihnen die Füße zu küssen!« So ging es jeden Tag. Allerdings war Opsara eine Kianene – eine Uftaka, um genau zu sein –, und man wusste ja, dass Uftaki gewöhnliche Leute waren, die sich freilich wie Adlige gebärdeten.
    Allem Gerede Opsaras zum Trotz schien es ihrem Schützling, dem kleinen Moënghus, überdies sehr gut zu gehen. Fanashila hatte das sogar eines Abends in der Sklavenküche verlauten lassen. Sie hatten in ihrer üblichen Ecke gesessen – einem Platz, der ihre Wichtigkeit sinnfällig machte – und Reis aus ihren Schalen gefingert, während Opsara mal wieder geschwafelt hatte, man müsse die neuen Gebieter umbringen. »Meinetwegen«, war Fanashila herausgeplatzt, »aber du fängst an!« Yel und die anderen hatten vor Lachen gebrüllt. Unverhofft hatte Fanashila herausgefunden, wie sich Opsara zum Schweigen bringen ließ. Inzwischen bebte sie geradezu, wenn die Amme loslegte, denn sie wusste ja, dass ihr großer Moment bald wiederkäme.
    Das Einzige, was Fanashila beunruhigte, war das Knien vor dem Schrein, zu dem die Aufseher sie und die anderen im Zelt des Kriegerpropheten zwangen. Erst sprach ein Tempelpriester ein Gebet, von dem Fanashila nur Bruchstücke verstand, dann wurde ihnen befohlen, einen Halbkreis von Götzen anzubeten. Einige waren grotesk (Onkis etwa, deren Kopf auf einem goldenen Baum steckte), andere obszön (wie Ajokli, der das Kinn auf sein Glied gestützt hatte), manche aber waren sogar schön – der strenge Gilgaöl beispielsweise oder die wollüstige Gierra, deren breit gespreizte Schenkel Fanashila allerdings erröten ließen.
    Der Tempelpriester nannte die Götzen Erscheinungsformen Gottes, doch Fanashila wusste es besser: Sie waren Dämonen.
    Dennoch betete sie zu ihnen, wie ihr befohlen wurde. Wenn die Aufseher abgelenkt waren, wandte sie den Blick von dem heimtückisch dreinschauenden Dämon vor ihr ab und suchte die in Brokat gefasste Vertäfelung, die die Zeltwände schmückte, nach den beiden Krummschwertern des Propheten Fane ab. Diese kleinen Zeichen des Glaubens ihrer Landsleute waren überall zu sehen. Dann wiederholte sie stets leise, was sie so oft im Gotteshaus gehört hatte.
    Ein Schwert für die Ungläubigen… und eins für die Verblendeten…
    Das musste reichen. Was konnte schon Schlimmes dabei sein, Dämonen anzubeten, da der Einzige Gott doch über alles und jeden gebot? Außerdem hörten die Dämonen zu… und erhörten gar die Gebete der Inrithi. Warum sonst wären die Götzendiener

Weitere Kostenlose Bücher