Der tausendfältige Gedanke
einem alten Mann – einem alten Blinden – und dem Kriegerpropheten ging. Schon dies war außergewöhnlich, da die Hundert Säulen sehr darauf achteten, jeden Blinden am Weg des Sakralen Gefolges fortzujagen und notfalls zu töten. Je mehr der Heilige Krieg sich Shimeh näherte, desto mehr fürchtete die Prophetengemahlin und Intricati nämlich einen Angriff der Cishaurim.
Offenbar war ein blinder Bettler aus Xerash übersehen worden, und als das Sakrale Gefolge durch die Stadt Gim kam, rief er dem Kriegerpropheten etwas zu. In einem Brief an seinen Vater beschrieb Prinz Nersei Proyas die Szene so:
Niemand verstand, was er sagte, doch Arishal und die anderen Leibwächter begriffen die Gefahr sehr wohl und gingen sofort auf den Mann los, wurden aber vom Kriegerpropheten mit mächtiger Stimme zum Einhalten gebracht. Alle standen verwirrt da, während der Gesegnete den schlurfenden alten Bettler betrachtete, dessen Haut fast schwarz war und dessen zerzaustes Haupt- und Barthaar darum weiß wie die Zähne eines Zeümi zu sein schien. Unter unseren staunenden Blicken saß der Gesegnete ab und ging auf den Alten zu, ab müsse er Buße tun. Als er vor der gebeugten Gestalt stand, fragte er: »Wer bist du, dass du Forderungen stellst?«, worauf der bemerkenswerte Narr antwortete: »Einer, der Euch etwas ins Ohr flüstern muss.« Wir stießen warnende Rufe aus, und ich, Vater, war fast panisch beunruhigt. »Und warum«, fragte der Gesegnete, »musst du flüstern?«, worauf der Mann antwortete: »Weil meine Worte mein Verhängnis sind. Wahrlich, Ihr werdet mich töten, wenn Ihr sie gehört habt.« Ich weiß, dass ich gerufen habe, das sei sicher eine List, eine Täuschung der Cishaurim, und ich weiß, dass es viele solcher besorgten Rufe gab, doch der Gesegnete hörte nicht auf uns. Er setzte sogar ein Knie auf die Erde, Vater, damit der Blinde besser an sein Ohr kam. Wir saßen reglos da und waren vor Schreck wie gelähmt, während der Bettler sein Verhängnis flüsterte. Und es war sein Verhängnis, Vater! Denn kaum war er fertig, da zog der Kriegerprophet sein heiliges Schwert Enshoiya und hieb den Schurken nieder, wobei er ihm den Leib vom Schlüsselbein bis zum Herzen spaltete. Wir waren kaum wieder zu Atem gekommen, als er dem Heiligen Krieg befahl, um Gim herum sein Lager aufzuschlagen. Denen aber, die nach einer Erklärung zu fragen wagten, sagte er kein Wort. Was hat der alte Narr bloß geflüstert?
Einst hatten ihn Ruhm und Schrecken umgeben. Er war Speerträger des mächtigen Sil gewesen, des großen Königs nach dem Sturz, und war dem Zorn Cu’jara-Cinmois auf der Ebene von Pir Pahal entgegengetreten. Er war auf Wutteät, dem Drachenvater, geritten und hatte mit Ciögli dem Berg gekämpft – und ihn von den Beinen geholt! Die Nichtmenschen von Ishriol hatten ihn erst Sarpanur genannt (nach dem Schlussstein ihrer primitiven unterirdischen Gewölbe), nach der Schoßplage dann Sin-Pharion, den Engel der Täuschung.
Ah, die raue Herrlichkeit damals! Er war jung gewesen, und die Plackereien hatten seine gewaltige Gestalt noch nicht geschwächt. Was für ein Wettstreit das gewesen war! Wäre Sil nicht so ungeduldig gewesen, dann hätten seine Brüder und er gewonnen, und die ganze Welt stünde nun auf der Kippe.
Nach ihrer Vertreibung aus Min-Uroikas hatten sie verstreut und verfolgt gelebt, und ihre Zahl hatte immer mehr abgenommen.
Doch dann hatte unvermittelt eine zweite Epoche der Herrlichkeit begonnen. Wer hätte gedacht, dass menschliche Gerissenheit ihre fehlgeschlagenen Pläne wieder aufleben lassen könnte und dieses Gesindel ihm wieder zu seinem alten Ruhm verhelfen mochte? Hordengeneral des schrecklichen Mog-Pharau, des Zerstörers der Welten, war er gewesen, er hatte die Große Bibliothek von Sauglish niedergebrannt und die Höhen des heiligen Trysë gestürmt. Er hatte ihre Städte in Flammen aufgehen und sie die Leere erleuchten lassen. Ganze Nationen hatte er blutig ausgelöscht! Aurang – den Kriegsherrn – hatten die Kûniüri ihn genannt, und das war womöglich der weitsichtigste seiner vielen Namen.
Wie hatte es also dazu kommen können, dass er nun im Leib eines Mischwesens steckte wie ein König im Gewand eines Leprösen und sich schwach und unstet um die Feuer eines argwöhnischen Feindes herumdrückte, obwohl einst die Schreie Tausender sein Kommen angekündigt hatten?
Er kreiste über der Gipfelanlage wie ein Geier – langsam, weit oben und mit unendlicher Geduld. Im Westen
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